Mystik ist der Weg der unmittelbaren Erfahrung Gottes in der Lebenswirklichkeit des Menschen. Mystik ist göttliches Erleben im Inneren des Menschen. Sie ist eine Geheimlehre, insofern sie zutiefst mit der doppelten Bedeutung des Begriff Ge-heim-nis (siehe Wort & Sinn) zu tun hat. Dabei geht es um eine Erfahrung des Heims und der Heimat. Die deutsche Sprache kennt diese Zusammenhänge viel besser als der analytische menschliche Verstand.
Mit dieser Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch steht die Mystik in äußerster Spannung zu religiösen Institutionen und autoritären Traditionen. Der Mystiker ist daher immer ein "Ein-samer" (siehe Wort & Sinn), dessen vielleicht größte Herausforderung darin besteht, das Unmittelbare mitzuteilen oder das Unteilbare zu vermitteln .
Diese Innerlichkeit in der Erfahrung des Mystikers ist aber nur die eine Seite. Das andere, ebenso wesentliche Merkmal der Mystik ist ihre Universalität. Sie ist tatsächlich das verbindende Element aller Religionen und hat so einen ganz ausgeprägt offenen und dialogischen Charakter. Natürlich kann ein Dialog nur stattfinden, wenn Unterschiede da sind. Er ermöglicht aber einen Standpunkt jenseits des eigenen Horizontes und vermittelt eine klarere, weitere und dynamischere Sicht nicht nur auf den Anderen, sondern auch auf die eigene Position. Das ist ein durchaus subversives Vorgehen, denn zunächst einmal muss mit dem Dialogpartner die eigene Sicht in Frage gestellt und gleichsam durch seine Brille betrachtet werden. Das schärft aber den Innenblick ungemein und gibt die Gelassenheit und den heiteren Abstand zu sich selbst, der unbedingt nötig ist bei der Erkenntnis des Wesens der Welt und des Menschen.
Dieser Abstand von der eigenen Position wird hier hergestellt, indem die christliche Tradition aus der Sicht eines jüdischen Weisen betrachtet wird. Dieser jüdische Weise heißt FRIEDRICH WEINREB. Ich möchte ihn als meinen Lehrer bezeichnen. Einige seiner Gedanken über den mystischen Weg werden im Folgenden zitiert als einen Versuch über eine mystische Methodik.
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Mystik
[von griechisch myein, "verschließen"]
Eine in allen Religionen erscheinende Form des Erlebens, welche die Erkenntnis Gottes aus innerer Erfahrung, die Vereinigung mit ihm oder die Erkenntnis des Wesens der transzendenten Wirklichkeit sucht.
Das "Verschließen" kann dabei sowohl auf die Innerlichkeit des Erfahrens hinweisen, als auch auf den geheimen Charakter einer mystischen Tradition.
Die Mystik kann gefühlsbetonte, sinnlich-rauschhafte und/oder intellektuell-spekulative Ausdrucksformen annehmen. Bedeutende Ausprägungen der Mystik sind in China der Taoismus, in Indien die Erlösungslehre des Vedanta, in Japan der Zen-Buddhismus, im Judentum die Kabbala und der Chassidismus, im Islam der Sufismus. Das Christentum hat besonders im Mittelalter in Deutschland bedeutende Strömungen der Mystik hervorgebracht mit Gestalten wie Meister Eckhart, Hildegard von Bingen und Johannes Tauler. Diesen allen ist gemeinsam eine genaue Beobachtung der Natur und des Menschen und die Erkenntnis des göttlichen Wirkens in ihr.
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Friedrich Weinreb über jüdische Mystik
"Mystik ist Geheimnis und kann nur als Erlebnis im Geheimnis erfahren werden. Eine Schule der Mystik, wo man Unterricht bekommt, ist ein Widerspruch in sich selbst. Jeder Weise sagt zu seinem Schüler: Wenn du dich sehnst und das Wort hörst, wirs du sehen, dass alles, wovon du glaubst, dass es sich erfüllen wird, nur die eine Seite ist. Die andere, wirklich großartige Seite wirst du erst noch erfahren."
(aus: F. Weinreb, Wort, Sprache und Sprechen. Verlag der Friedrich Weinreb Stiftung 2008, S. 298 ff.)
"... bei der Mystik [handelt es sich] um einen Bereich der Verborgenheit. Wie das Mysterium hat Mystik mit etwas zu tun, das sich allen rationalen, allen kausal gültigen Maßstäben entziehen kann. Ich sage: kann - , denn es könnte sogar sein, dass es auch diesen Maßstäben entspricht; aber dann ist da auch noch etwas ganz anderes. Es ist der unerklärliche Rest, und der ist bei der Mystik sehr groß, manchmal sogar überwiegend."
"Wenn ich vom Verborgenen spreche, so meine ich damit nicht etwas Geheimgehaltenes. Man kann etwas mit Absicht verbergen, weil man es dem anderen nicht gönnt. Mystik aber hat zum Verborgenen jedes Menschen eine Beziehung. Es ist die Verborgenheit in uns, wo wir uns selber nicht kennen, die wir nur ahnen können: der große Bereich des Nichtbewussten." (S. 11-12)
"Mystik ist also, könnte man sagen, das Gebiet im Menschen, wo sich mit der Wissenschaft nichts erreichen lässt. Man kann Mystik nicht studieren ... Was nicht etwa besagen will, dass in der Mystik die Vernunft, der Verstand ausgeschaltet wären - ganz und gar nicht!, denn da käme, spürt man, nur Unsinn heraus. Das Mystische ist das Jenseitige in unserem Leben. Es ist jenseits dessen, wo wir wahrnehmen und daraus schlussfolgern können. Aber dieser jenseitige Bereich in uns ist nicht antirational, antikausal oder irgendwie vage, wo alles an Spekulationen oder Hypothesen erlaubt wäre." (15-16)
"Die jüdische Mystik basiert auf der Bibel, auf dem, was im Judentum die Thora genannt wird, ein Wort, das man mit 'Unterrichtung', 'Unterweisung' oder 'Lehre' übersetzen könnte, das aber auch ein Sich-Öffnen meint, ein Schwängern, eine Verborgenheit. Als schriftliche Thora umfasst sie die Bibel von der Genesis bis zu den letzten Propheten. Beim Christentum kommt dann noch das Neue Testament hinzu; aber es ist natürlich klar, dass sich die jüdische Mystik nicht auf das neue Testament beziehen kann. Wir werden aber sehen, wie vieles erst klar werden könnte, wenn wir das wohl versuchen... Die Bibel ist wie ein Kunstwerk aus Inspiration entstanden, nicht aus Konstruktion." (16-17)
"Neben der schriftlichen Thora gibt es einen Komplex, viel umfangreicher als diese, den man die mündliche Thora nennt. Der Ausdruck will nicht sagen, dass es sich dabei um bis heute nur mündliche Mitteilungen handelt. Vielmehr ist dieses mündlich Überlieferte schon längst zum weitaus größten Teil aufgeschrieben worden, längst auch gedruckt, zumindest sind Manuskripte da. Und dann gibt es immer auch noch Geschichten, die weitererzählt werden. Von diesem ganzen Komplex wird auch gesagt, dass er inspiriert sei, also aus dem Bereich des Verborgenen stamme. ... Die mündliche Thora. Man könnte von ihr wie von Träumen sprechen, inspirierten. Inspirationen, Träume des Menschen, aus denen Geschichten hervorgingen. Wie aus den Träumen seines Verborgenen seine Bewegungen und sein ganzes Verhalten hervorkommen." (18-20)
"Die Sprache der Mystiker können wir verstehen, wenn wir ihre Worte und Begriffe einfach in Tatsachen und Phänomene unseres eigenen Lebens übersetzen. Dann führt sie (die Mystik) uns zu etwas Neuem: eine Reise in alle diese (jenseitigen) Welten. Der Raum ist dann aufgehoben, und doch gibt es den Raum, aber übersehbar, und die Zeit hört auf, fließende Zeit zu sein, wo du immer auf den nächsten Augenblick warten musst und das Vergangene vorbei ist, vergessen, aus dem Sein verwest. Die Zeit wird durchschaubar, übersichtlich, ist für dich nicht mehr unendliche Zeit." (62)
(alle vorstehenden Zitate aus: F. Weinreb, Der mystische Weg. Thauros Verlag, Weiler 1993)
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