arjeh - der Löwe

Arjeh heißt im Hebräischen "Löwe". Damit erschöpft sich die Bedeutung dieses Wortes aber noch lange nicht. Die hebräische Sprache ist ein sehr lebendiges Gebilde, das den Dialog und die Auseinandersetzung fördert. Sie kennt als festes Gerüst nur die Konsonanten. Die Vokale sind jeweils frei wie der Geist, der aus jeder Rede spricht. Deshalb kann man die Konsonanten, die das Wort "Löwe" bilden, auch alternativ mit anderen Vokalen lesen als or-jah. Und dann heißt es: "Das Licht des Herrn".

Wie dieses sprachliche Spektrum bereits andeutet, ist der Löwe eine Symbolgestalt ersten Ranges. Vielerlei Vorstellungen und Bilder ranken sich um ihn. Sein Element ist das Licht und das Feuer. Diese Attribute verdanken sich wohl der Farbe seines Fells und der flammenartigen Mähne. Nicht von ungefähr wird dann sein astrologisches Zeichen auch dem Hochsommer zugeordnet (23.07-23.08.). Trockenheit und Wärme prägen seine natürliche Umgebung.
Dann gilt der Löwe als der König im Tierreich. Und hier beginnen sich biologische und geistige Verhältnisse zu vermischen. Der Lebensraum des Löwen ist die Wüste, von Alters her ein besonderer Ort der Begegnung mit Gott. Sein Element ist die Sonne und die Wärme, die er ausgiebig zu genießen weiß. Die Sonne als Zentrum unseres Planetensystems und Spenderin aller Lebensenergie drückt Kraft und Macht aus - Bilder, in denen sich der Löwe dann auch selbst verkörpert. Angesichts dieser Symbolkraft ist es nicht verwunderlich, dass der Löwe in die religiöse Tradition des Judentums und Christentums Eingang gefunden hat.

Detail des Toraschreins der Krakauer Synagoge

Der Löwe ist das Wappentier des israelitischen Stammes Juda. In der hebräischen Bibel taucht er auch gleich zum ersten Mal in diesem Zusammenhang auf (Genesis 49,9-11):

"Ein junger Löwe ist Juda. Vom Raub, mein Sohn, bist du hochgekommen. Er kauert, liegt da wie ein Löwe, wie eine Löwin. Wer wagt, sie zu scheuchen? Nie weicht von Juda das Zepter, der Herrscherstab von seinen Füßen, bis dass kommt der Schilo, dem gehört der Gehorsam der Völker. An den Weinstock bindet er sein Eselsfüllen, an die Edelrebe das Junge seiner Eselin; er wäscht im Wein sein Kleid und im Blut der Trauben sein Gewand"

Dieser Text weist dem Stamm Juda und dem Löwen königlichen und messianischen Charakter zu. Dem christlichen Leser dieser Stelle fällt natürlich sofort die Verbindung zu Texten des Neuen Testaments auf. So erzählen Mt 21,2-7; Joh 12,14f. von dem Esel, auf dem Jesus als König Israels in Jerusalem einzieht. Die christlichen Texte gehen zurück auf prophetische Deutungen, so ganz deutlich bereits in der hebräischen Bibel bei Sacharja 9,9:

"Aber du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin. Und ich rotte die Streitwagen aus Ephraim und die Pferde aus Jerusalem aus, und der Kriegsbogen wird ausgerottet. Und er verkündet Frieden den Nationen. Und seine Herrschaft [reicht] von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde."

Ohne Zweifel sind diese Texte der Hebräischen Bibel und des christlichen Neuen Testaments kongruente Bilder der Erlösung. Sie reden vom Kommen des königlichen Messias als des Erlösers Israels. Alle diese Aussagen sind keine christlichen "Erfindungen". Es sind Themen der hebräischen Bibel, die stets ihrer Erfüllung entgegensehen. Auch wenn das christliche Neue Testament diese Themen aufgreift und mit Jesus in Verbindung bringt, so muss doch gesehen werden, wie wenig - eigentlich nichts! - davon nun schon historisch, das heißt im Äußeren, verwirklicht wäre. Im Verhältnis zwischen Judentum und Christentum gibt es daher keine "Aufgabenteilung" zwischen Ankündigung einerseits und Erfüllung andererseits. Nein, in der jüdischen und der christlichen Bibel ist überall von demselben Geschehen die Rede - es existiert dort kein Vorher und Nachher, wäre doch anderenfalls die Bibel nicht "heilig" zu nennen, denn dieses Wort meint doch "ganz, unversehrt, allumfassend".

Diese Erzählungen vom Messias sind historisch unerfüllt, sie beschreiben eine Hoffnung, eine immerwährende Zu-Kunft. Es wäre also eine grobe Verzerrung, die biblischen Motive als ein historisches Ereignis zu verstehen. Es geht in der Bibel nicht um eine bereits erfüllte Geschichte, irgendwann einmal geschehen vor etwa 2000 Jahren oder früher, sondern um ein immerwährendes Geschehen zu jeder Zeit und für jeden Menschen, unabhängig von seiner biologischen oder gesellschaftlichen Herkunft. Das jüdisch-christliche Bild der Erlösung ist ein Traumbild der Seele und insofern nicht gebunden im Zeiträumlichen.

Deshalb kann man vom Messias auch nicht sagen: Hier ist er erschienen, oder dort wird er geboren. Vielmehr wird er immer nur geboren in Dir!


Der Löwe ist also ein wichtiges Symbol für die Gegenwart Gottes unter den Menschen. Nach einem Traumbild beim Propheten Ezechiel steht am Thron Gottes neben dem Adler, dem Stier und dem Menschen der Löwe (Ez 1,10). Von hierher haben übrigens die christlichen Evangelisten ihre Symbole, ein deutliches Zeichen dafür, dass wir es bei den Evangelien mit visionären, mystischen Texten zu tun haben. Der Adler steht für den Evangelisten Johannes, der Stier für Lukas und der Mensch für Matthäus. Der Löwe aber wird mit dem Markusevangelium in Verbindung gebracht. Woher diese Beziehung geschichtlich stammt, ist ungewiss, es gibt jedoch klare Anhaltspunkte im Text des Markusevangeliums selbst, die solche Zuordnung nahegelegt haben. Der Text beginnt mit den Worten "Stimme eines Rufenden: In der Wüste bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade" (Mk 1,3). Dieser Text ist ebenfalls aus der Hebräischen Bibel, einem Text des Propheten Jesaja (Jes 40,3), entnommen.
Die Wüste bezeichnet eben den Ort, wo nichts Äußeres mehr den Menschen ablenkt, wo er ganz auf sich selbst verwiesen ist. Dort im Terrain des Löwen findet sich der Weg des Herrn. Bequem ist dieser Weg nicht, aber unmittelbar und eindringlich erfahrbar.


Eine weitere Assoziation zum Symbol des Löwen ergeibt sich über den Rasta-Kult aus Jamaika, der über die Reggae-Musik seit den sechziger Jahren weltweit sehr populär geworden ist. Der Name "Rastafari" stammt vom bürgerlichen Namen des Kaisers Haile Selassie von Äthiopien, Ras-Tafari. Der Begriff kommt aus der amharischen Sprache, die zur semitischen Sprachfamilie gehört und also dem Hebräischen stark verwandt ist. Er bedeutet "Haupt, das gefürchtet werden soll". Das "Haupt" bezieht sich hier auf Gott, der übrigens im Rastafarianismus "Jah" heißt - eine klare Ableitung vom biblischen Gottesnamen JHWH, der auch biblisch oft zu J-H abgekürzt wird. Der offizielle Titel des äthiopischen Kaisers lautete unter anderem "Löwe des Stammes Juda".

Nicht zuletzt hat auch die typische Haartracht der Rastafari, die Dreadlocks, hierher ihre Bedeutung. Sie symbolisiert nämlich augenfällig eine Löwenmähne.

Auch diese Zusammenhänge erinnern daran, dass sich die Anhänger des Rastafari-Kults innerlich als Nachfahren des biblischen Stammes Juda sehen. Der "Löwe von Juda" soll dem unterdrückten Volk die Befreiung bringen. Das ist ein Bild der Erlösung, wie es sich von der Bibel her eingeprägt hat.