Biblische Erkenntnistheorie

oder: Was können biblische Texte vermitteln?

Im 20. Jahrhundert wurden für das Verständnis biblischer Texte entscheidende Dimensionen freigelegt. Die Exegese, also jene christliche theologische Wissenschaft, die sich mit der Auslegung der Bibel beschäftigt, trat an, die Texte auf ihre Entstehung und ihre Gestalt hin zu untersuchen. Dies geschah vorrangig unter "historisch-kritischen" Fragestellungen und Perspektiven. Damit ent-sprach die Exegese wissenschaftlichen Verfahren, wie sie auch Historiker anwenden, um die Entstehungsgeschichte eines Textes zu erforschen. Diese Exegese rechnet mit Veränderungen, die der Text nach und nach durch verschiedene Hände erfahren hat. Damit läuft sie jedoch Gefahr, den Text in seiner vorliegenden Gestalt zu vernachlässigen und ihn lediglich als einen Steinbruch für äußere wissenschaftliche Funde zu missbrauchen.
Erst in den letzten Jahren bekamen Exegeten zunehmend die Methoden und Instrumente der Sprach- und Texttheorie in den Blick. Damit wurde vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums der Blick auf die Bibel als Text frei. Sowohl in der aufgeklärten Exegese des 19. und 20. Jahrhunderts, als auch zuvor in der christlichen (= kirchlichen!) Tradition nämlich ging es mehr oder weniger um Fragen der Geschehnisse hinter dem Text - sei es vormals als ein unkritischer Buchstabenglaube ("wenn es in der Bibel steht, muss es auch so geschehen sein"), sei es zuletzt als die hyperkritische historische Sezierung der äußeren Textgestalt ("die Aussagen des Textes müssen relativiert werden, weil sie entweder unglaubwürdig oder inkonsistent sind"). Beide Betrachtungsweisen betonen gleichermaßen das Äußerliche und können so den Texten nicht gerecht werden. Es käme jedoch darauf an, das Wort selbst zu achten.

Zur Illustration dieser Zusammenhänge nehmen wir Zuflucht zur bildenden Kunst. Von René Magritte gibt es ein wahrhaft erhellendes und aussagestarkes Gemälde. Es zeigt eine Tabakspfeife samt der Schriftzeile "Ceci n'est pas une pipe" - "Dies ist keine Pfeife".
Der zunächst irritierte Zuschauer ist geneigt, seinen Augen nicht zu trauen, sieht er doch die Pfeife vor sich, formvollendet und in meisterhafter Weise realitätsgetreu dargestellt. Doch beim Gedanken "realitätsgetreu" ergeben sich neue Irritationen und gedankliche Widerhaken: Die Pfeife ist fast fotografisch exakt wiedergegeben, jedoch muss sich der verblüffte kunstbeflissene Betrachter letztlich eingestehen: Was er sieht, ist nicht die Pfeife selbst, sondern das Bild einer Pfeife! Die Pfeife existiert in diesem Moment lediglich in der Vorstellungskraft des Betrachters. So nennt Magritte sein Gemälde auch "Le trahison des images" - "Der Verrat der Bilder". Tatsächlich: Das Bild ist keine Pfeife, sondern ein Bild!

René Der Betrug der Bilder: Dies ist kein Apfel

Was lässt sich für den Umgang mit biblischen Texten aus diesem kleinen Ausflug in die Kunstgeschichte lernen? Die wichtigste Erkenntnis lautet: Wie in der Kunst geht es biblischen Texten nicht um die Vermittlung von äußeren Tatsachen. Der biblische Text will nicht belehren über außer ihm liegende historische Sachverhalte. Das Wort ist nicht der Diener der historischen Begebenheiten, von denen er redet, vielmehr gilt: Das Wort ist die Sache selbst!

Deshalb kann das Johannesevangelium fundamental feststellen: "Im Anfang war das Wort". Und dieses Wort ist der Mittler zwischen Gott und dem Menschen. Insofern hat Martin Luther ein wesentliches Prinzip der christlichen Grundhaltung mit dem "sola scriptura" - "allein die Schrift" ganz richtig herausgestellt.

Problematisch wird die biblische Lektüre dann, wenn man versuchte, hinter dem Text eine materielle Wirklichkeit zu finden, die die Grundlage für den Text abgeben soll. Katastrophal aber wird sie, wenn man dieser Wirklichkeit entscheidende Bedeutung für den Sinn der Lektüre beizumessen versucht. Das würde zur Trennung von Wort und Sache führen. Und diese Trennung bedeutet den Tod des Wortes. Deshalb gilt: Hinter dem biblischen Wort stehen nicht historische Ereignisse, die man isoliert betrachten könnte, sondern unmittelbar Gott selbst.

Mariä Verkündigung (Jean Poyer, um 1500)
Die Verkündigung des Engels an Maria (Jean Poyer, um 1500). Man beachte die zentrale Rolle des Buches. Offenbar geschieht die Begegnung mit dem Engel buchstäblich "im Wort".

Christliche Exegese und in ihrem Gefolge auch die kirchliche Dogmatik hat stets auf eine äußere historische Realität abgehoben, die durch den biblischen Text nur vermittelt wäre. Nehmen wir das prominenteste und zugleich einfachste Beispiel: Die Katholische Kirche verlangt von ihren Mitgliedern den Glauben an die historische Tatsache einer "Jungfrauengeburt": Nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums (Lk 1,26-38) soll Maria, die Mutter Jesu, ihr Kind in jungfräulichem Zustand empfangen haben. Eine solche "Tatsache" ist biologisch unmöglich und existiert daher nirgendwo anders als im Evangelium, das heißt im Wort. Dort aber ist sie im wahrsten Sinne des Wortes erschwinglich und führt den Leser hinein in Dimensionen des Göttlichen und Heiligen. Glauben heißt dann: Sich aufzuschwingen in die geistigen und seelischen Wahrheiten des Wortes, so dass das Wort in Dir, dem Glaubenden, selbst geboren wird.

Um diese Dimensionen zu erreichen, bedarf es keines historischen Ereignisses in einem Ort namens Bethlehem in Palästina vor etwa 2000 Jahren. Ganz im Gegenteil: Die Präsenz des jungfräulich Geborenen liegt im Wort selbst und ist dort unmittelbar erfahrbar ganz ohne äußere historisch-biologische Tatsache. Mehr noch: Gerade diese ungeschichtliche und übermaterielle Existenz ermöglicht jedem Menschen die Nähe solcher Erfahrung über die Grenzen jeden Ortes hinweg und zu jeder Zeit.

Streit gibt es zwischen den Religionen stets dann, wenn Wort und Sache getrennt werden. Dann gerät man über die Frage nach der "Natur" Jesu oder über den Charakter der Eucharistie in heillose Konflikte, die sogar mit tödlicher Gewalt ausgetragen und niemals gelöst werden. Dabei ist Hochachtung des biblischen Wortes das zutiefst verbindende Element der monotheistischen Religionen. So bezeichnet der Koran zu Recht Juden und Christen als die "Leute des Buches". Im Zentrum des jüdischen Gottesdienstes steht die Tora. Im Zentrum des christlichen Gottesdienstes steht die Verkündigung des Evangeliums und daneben in der Eucharistie oder dem Abendmahl die Erinnerung einer Erzählung vom Wort, das Fleisch geworden ist und vom Menschen aufgenommen werden kann. Mit dieser ER-INNERUNG wird biblische Erzählung wirk-lich - nicht im Sinne von historisch-empirischer Beweisbarkeit, wohl aber im Sinne einer erfahrbaren geistig-seelischen Realität in dem Menschen, der sich davon bewegen lässt.