"Der Mensch" in der Verteidigungsrede des Nikodemus Joh 7,51 und das "Ecce Homo"

Von Friedhelm Wessel

Der Aufsatz erschien zuerst in der Zeitschrift Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt (SNTU) 17 (1992), S. 195-214. Er wurde hier lediglich sprachlich und in der Form leicht überarbeitet.


Joh 7,45-52 schildert eine kurze Szene, in der es um unterschiedliche jüdische Reaktionen auf die Person Jesu geht. Zuvor erzählte der Evangelist, dass die jüdischen Autoritäten (Hohepriester und Pharisäer) Amtsdiener ausschickten, um Jesus greifen zu lassen, weil er für Aufruhr im Volk (griechisch: ho ochlos) gesorgt hatte (7,32). Die Diener kehren unverrichteter Dinge zurück, weil sie sich selbst von Jesu Worten haben faszinieren lassen (7,45-46). Daraufhin müssen sie sich seitens der Pharisäer folgende Kritik gefallen lassen:

"Habt denn auch ihr euch in die Irre führen lassen? Ist etwa einer der Anführer zum Glauben an ihn (Jesus) gekommen, oder einer der Pharisäer? Aber dieses Volk (ho ochlos), das das Gesetz nicht kennt: verflucht sind sie!" (7,47-49).

Die Pharisäer sind offenbar der Meinung, dass sich die Amtsdiener hier nicht wesentlich vom "gemeinen Volk" unterscheiden, das sich im Johannesevangelium insbesondere von Jesu Botschaft angesprochen weiß (vgl. neben 7,31-32 auch 12,9-11.18-19). In dem Ausdruck "dieses Volk, das das Gesetz nicht kennt" lässt sich eine deutliche Umschreibung des rabbinischen Begriffes am ha'ares (hebr. "das Volk des Landes") erkennen, womit aus der Perspektive des gesetzestreuen Judentums die quasi-heidnische, weil toraunkundige Bevölkerung des Landes gemeint ist, die deshalb nicht zum eigentlichen Israel gehören kann [1]. Nach jüdischen Quellen standen insbesondere die Pharisäer dem am ha'ares äußerst ablehnend gegenüber. Dafür kann bereits ihr Name ("die Abgesonderten") als Programm gelten.[2] Johannes bringt demnach mit 7,49 den Konflikt zwischen dem pharisäischen Judentum und dem gesetzesunkundigen Volk auf sehr markante Weise auf den Begriff.[3]

Auf die harsche pharisäische Kritik an diesem Volk ("sie sind verflucht") lässt der Evangelist nun einen Einwand des Pharisäers und Ratsherren Nikodemus folgen, der bereits zuvor ein nächtliches Gespräch mit Jesus hatte (Joh 3,1-21), an das in einer kurzen Rückblende (7,50) erinnert wird. Nikodemus wird so nochmals als ein vorurteilsloser und aufrechter Mann gekennzeichnet, der sich wegen seiner Offenheit aus der Masse der Pharisäer heraushebt. Nikodemus erscheint aus der Sicht des Evangelisten offenbar nicht im gleichen Maße als "abgesondert" wie seine Standeskollegen. Das erweist sich jetzt auch in seiner kritischen Bemerkung zu ihrem Verhalten, die den weiteren Fortgang der Szene bestimmt.

1. Die syntaktische Unschärfe von 7,51[4]

In sämtlichen Kommentarwerken zum Johannesevangelium wird herausgestellt, dass Nikodemus in Joh 7,51 Jesus verteidigen will, indem er darauf hinweist, dass man einen Angeklagten zuerst selbst anhören muss, damit man weiß, was er getan hat und so ein angemessenes und gerechtes Urteil fällen kann.[5] Der Text wird dann so übersetzt: "Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, wenn man ihn nicht zuvor verhört hat, und weiß, was er tut?"[6]. Nach diesem Verständnis ist Jesus der Mensch, der sich vor dem Gesetz zu verantworten hat. Diese Übersetzung hat jedoch einige sprachliche Hürden zu überwinden. Der gut bezeugte griechische Text lautet:

7,51a: mê ho nomos hämôn krinei ton anthrôpon
b: ean mê akousê prôton par autou
c: kai gnô ti poiei;

Ein Blick auf die syntaktische Struktur des Verses zeigt, dass in 51a das Gesetz selbst als Gerichtsinstanz über den Menschen vorgestellt wird. "Das Gesetz", zweifellos verstanden als die Tora, ist das Subjekt des Richtens, nicht ein jüdisches Gremium oder die Pharisäer, sonst hätte es doch etwa heißen müssen: "richten wir denn den Menschen". Der üblichen Übersetzung zufolge bringt nun 51b einen Subjektwechsel: Nach der Aussage über "das Gesetz" heißt es nun: "man" verhört den Menschen(b), damit "man" weiß, was er tut (c). Ein solcher Subjektwechsel wird aber vom Text selbst überhaupt nicht angezeigt. Die beiden einzigen Bezugsworte, auf die sich die Verben in 51b und c beziehen können, sind nomos und  anthrôpos von 51a.

Eine weitere Schwierigkeit des Textes ist das Verständnis des Ausdrucks akouein para. Dies heißt zunächst und grundsätzlich nichts anderes als: "hören von" und bezeichnet den Urheber oder die Quelle des Hörens.[7] In dieser Bedeutung kommt der Ausdruck häufiger im Johannesevangelium vor (Joh 1,40; 6,45; 8,26.40; 15,15). Eine Übersetzung im Sinne von "verhören" ist sprachlich möglich, sie liegt nach joh. Sprachgebrauch aber zunächst nicht nahe.

Drittens fällt das Präsens von ti poiei in 51c auf. Man müsste bei der üblichen Übersetzung eine Vergangenheitsform erwarten, etwa: "und man weiß, was er getan hat". Tatsächlich bietet die Handschrift D folgenden Text: kai epignôsthê ti epoiêsen - "und man erkannt hat, was er getan hat". Diese Verständniserleichterung durch D zeigt, dass bereits dort die Problematik des Verses aufgefallen ist.

Aufgrund dieser sprachlichen Beobachtungen sind grundsätzlich zwei Übersetzungen syntaktisch möglich, je nachdem, welches Subjekt man für 51b und c annimmt:

(1) Richtet denn unser Gesetz den Menschen, ohne dass es (dasGesetz) zuerst von ihm (dem Menschen) gehört hat, und es weiß, was es (oder: was er) tut?
(2) Richtet denn unser Gesetz den Menschen, ohne dass er (der Mensch) zuerst von ihm (dem Gesetz) gehört hat, und er weiß, was er tut?

Übersetzung (1) bedeutet: Die Tora als personifizierte Gerichtsinstanz richtet den Menschen erst, nachdem es ihn angehört ("verhört") hat und so zur Erkenntnis seines Tuns gelangt ist ("was er tut"), womit sie sich auch selbst Rechenschaft über ihr eigenes Tun, das Richten, ablegt ("was es tut"). Dieses Verständnis wird in der Exegese üblicherweise zum Ausgangspunkt der Auslegung gemacht. Übersetzung (2) versteht ganz im Gegensatz dazu: Die Tora kann nur gegenüber demjenigen als Richterin auftreten, der sie auch kennt. Nun ist nach dem unmittelbaren Kontext nicht die übliche, sondern die zweite Übersetzung die offenkundig näherliegende. Nikodemus erwidert doch ganz eindeutig den Vorwurf der Pharisäer gegen das gesetzesunkundige Volk, es sei verflucht (7,49). Er weist hier darauf hin, dass die Tora nur für denjenigen eine Gerichtsinstanz darstellen kann, der sie kennt und so überhaupt erst einmal weiß, dass er sich eines Vergehens schuldig gemacht hat. Kurz und prägnant formuliert Paulus den gleichen Sachverhalt in Röm 4,15: "Wo aber kein Gesetz, da ist auch keine Übertretung". Nikodemus setzt sich also für das gesetzesunkundige Volk ein, indem er seine Kollegen darauf aufmerksam macht, dass nur unter dem Gesetz Übertretung möglich ist und folglich die Gesetzesunkundigen nicht verflucht sein können. Dieser Streit ist ein rein innerjüdischer zwischen zwei zunächst durchaus vertretbar erscheinenden rabbinischen Auffassungen über das Verhältnis der "Heiden" zur Tora.[8] Die Argumentation des Nikodemus ist plausibel, ohne dass die Person Jesu dabei eine unmittelbare Rolle spielt

2. Die semantische Unschärfe von 7,52

In 7,52 reagieren nun die Pharisäer ihrerseits auf den kritischen Einwurf des Nikodemus: "Sie antworteten und sprachen zu ihm: Bist etwa auch du ausGaliläa? Forsche nach und sieh: Aus Galiläa geht kein Prophet hervor" (7,52).

Erst an dieser Aussage entscheidet sich letztlich der von Johannes intendierte Sinn der ganzen Szene. Nach den vorstehenden Überlegungen zu 7,51 ist damit zu rechnen, dass zunächst der Disput in der eingeschlagenen Richtung weitergeführt wird.

2.1. Die Handlungsebene der Szene: Polemik gegen Nikodemus

7,52 ist auf den ersten Blick eine ganz folgerichtige Reaktion der Pharisäer auf die deutliche Stellungnahme seitens Nikodemus zugunsten des gesetzesunkundigen Volkes. Nikodemus muss sich hier eine Kritik gefallen lassen, die nicht sachlich argumentiert, sondern seine persönliche Integrität in Zweifel zieht. Möglicherweise unter Verwendung einer in pharisäischen Kreisen gängigen Redewendung, dass aus dem geradezu "heidnischen" Galiläa (vgl. Mt 4,15-16: das "Galiläa der Heiden" ist das "Volk, das im Finstern sitzt") nichts Gutes kommen könne, unterstellen die Pharisäer dem Nikodemus in polemischer Absicht eine galiläische Herkunft, womit für sie erwiesen wäre, dass er kein "Prophet" sein kann und seine Worte folglich keinen tieferen Rechtfertigungsgrund haben. Das Wort "auch" ("Bist auch du aus Galiläa?") muss keineswegs notwendigerweise anzeigen, dass Nikodemus wie Jesus aus Galiläa sei, sondern kann auch bedeuten, dass Nikodemus wie das verfluchte, gesetzesunkundige Volk dort herstamme.

Dass Johannes tatsächlich auch hier zunächst noch thematisch im Rahmen des Streits über den Status des gesetzesunkundigen Volkes bleibt, ist leicht zu zeigen. Die pharisäische Ansicht, aus Galiläa komme kein Prophet, macht keineswegs nur Sinn als eine schrifttheologisch reflektierte Aussage über die Bedingungen prophetischer Legitimation im allgemeinen und Jesu Legitimation im besonderen. Das bestätigt sich allein schon durch die Tatsache, dass die hebräische Bibel tatsächlich von einem Propheten aus Galiläa berichtet (Jona ben Amittai; 2 Kön 4,25). Angesichts dessen wäre es auch kaum plausibel zu machen, dass Johannes die Pharisäer so absichtlich die Unwahrheit sagen lässt.[9] Darüber hinaus besagt das Präsens von egeiretai - wörtlich genommen -, dass jetzt kein Prophet aus Galiläa kommt, es aber völlig offen bleibt, ob solches in der Vergangenheit geschehen sein kann. Die Annahme R. Bultmanns, es handele sich hier um ein zeitloses Präsens "des dogmatischen Satzes"[10], ist durchaus nicht zwingend. Auch die Aufforderung an Nikodemus, "forsche nach" (eraunêson), heißt nicht eo ipso, dass er in der Schrift nachforschen solle.[11] Das Verb eraunaô kommt im ntl. Sprachgebrauch in den unterschiedlichsten Verbindungen vor (s. Röm 8,27; 1 Kor 2,10; 1 Petr 1,11; Offb 2,23). Allerdings gibt es eine weitere Stelle bei Johannes, die es in Verbindung mit dem Objekt "die Schriften" anführt (Joh 5,39: araunate tas graphas). Wenn dort aber anders als hier "die Schriften" als Objekt des Nachforschens ausdrücklich genannt werden, so spricht dies gerade dagegen, dass das einfache Verb schon von sich aus den Sinn "erforsche die Schriften" hat. Die Aufforderung zum Nachforschen lässt sich dann ohne Schwierigkeiten auf eine Erkundung des gegenwärtigen Umstands beziehen, dass aus dem "Galiläa der Heiden" niemand mit prophetischer (d.h. göttlicher) Autorität zu sprechen in der Lage ist, auch ein Nikodemus nicht.

Damit ist gezeigt, dass die pharisäische Redeweise durchaus Sinn macht als Polemik gegen einen Nikodemus, dem es um Gerechtigkeit gegenüber dem gesetzesunkundigen Volk geht. Gerade dieser Einsatz provoziert offenbar die Beschimpfung, dieser Nikodemus selbst sei aus Galiläa, und damit aus heidnischem Milieu. So lässt sich die Ausdrucksweise "Bist auch du aus Galiläa?" vollkommen im Rahmen des Verhältnisses der Pharisäer zum am ha'ares erklären.[12] Denn wenn es richtig ist, dass das gesetzesunkundige Volk insbesondere in Galiläa beheimatet ist, so ergibt sich für die Pharisäer zwanglos die Schlussfolgerung, dass eben auch Nikodemus selbst daher stammen muss, wenn er sich für diesen Personenkreis so vehement einsetzt. Anhand dieser unsachgemäßen Polemik im Mund der Pharisäer zeigt Johannes aber deutlich, dass sie hier kein stichhaltiges Urteil über Nikodemus sprechen, sondern vielmehr sich selbst ins Unrecht setzen. Dadurch wird der Einwurf des Nikodemus abschließend als die richtige - weil toragemäße - Entscheidung qualifiziert und die Ansicht der Pharisäer als unberechtigtes Vorurteil disqualifiziert.

2.2. Die Bedeutungsebene der Szene: Polemik gegen Jesus

Man kann demnach die vorliegende Szene vollständig erklären, ohne dass dabei die Person Jesu in der Auseinandersetzung zwischen Nikodemus und den Pharisäern auch nur die geringste Rolle spielt. Dennoch kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die christliche Auslegungstradition den Text ganz anders verstanden hat. Dies geschah nicht ohne Grund, wie jetzt gezeigt werden soll.

Offenbar hat der Ausdruck "ein Prophet" in 7,52 dazu geführt, in 7,51 eine Verteidigungsrede für Jesus zu erkennen, weil im unmittelbaren Kontext dieser Szene Jesus selbst als "der Prophet" bezeichnet wird. In 7,40-41 schildert der Evangelist einen Streit, ob denn Jesus, der von einigen als der eschatologische "Prophet" und der Messias erkannt wird, nach dem Zeugnis der Schrift als solcher nicht aus Galiläa, sondern vielmehr aus der Davidsstadt Betlehem in Judäa kommen müsse. Auffälligerweise aber gehören die Teilnehmer dieses Streits ausdrücklich nicht zu den Pharisäern, sondern zum einfachen Volk (ho ochlos: 7,40). V.43 fasst zusammen: "Eine Spaltung entstand also seinetwegen im Volk (en tô ochlô)". Es ist kaum möglich, die Pharisäer, die sich ja gerade entschieden von "diesem Volk" distanzieren, als eine der hier streitenden Parteien zu identifizieren. So erscheint es vom Handlungsablauf des Textes her ausgeschlossen, dass in 7,52 das Thema von 7,40-41 direkt wieder aufgenommen wird, da Johannes deutlich von jeweils unterschiedlichen Gruppen redet. Auf der Handlungsebene des Textes ist 7,52 nicht die unmittelbare Fortsetzung von 7,41b-42. Wenn Johannes demzufolge die Pharisäer zwar nicht ausdrücklich auf Jesu Offenbarung (7,37-38) reagieren lässt, so muss es doch dem Leser auffallen, dass über das Wort "Prophet" ein thematischer Zusammenhang zwischen 7,40 und 52 besteht. Das heißt aber: Johannes ermöglicht dem Leser einen erweiterten Verständnisrahmen, der ihn über den direkten Handlungskontext hinausführt. Wie R. A. Culpepper gezeigt hat, resultiert ein beträchtlicher Teil der Aussagekraft des vierten Evangeliums gerade aus dieser Technik des "impliziten Kommentars".[13] Der Leser wird vom Autor angeleitet, auf die nicht explizit ausgesprochenen Obertöne und Doppeldeutigkeiten des Textes zu achten, damit ihm die Bedeutung des Geschehens - oftmals im Unterschied zu den handelnden Personen - offenbar wird. Culpepper fasst seine Einzelbeobachtungen zusammen: "The gospel achieves its most subtle effects, however, through its implicit commentary, that is, the devices and passages in which the author communicates with the reader by implication and indirection. Here the gospel says more than it ever makes explicit"[14].

Nur auf diese implizite Weise erhält Joh 7,52 unter Berücksichtigung von 7,40-41 tatsächlich eine Bedeutung im Hinblick auf Jesus: Es wird dem Leser vor Augen geführt, dass es hier nicht nur explizit um Nikodemus, sondern implizit auch um Jesus geht: nach Aussage der Pharisäer erweist dann die galiläische Herkunft Jesu, dass er keinesfalls ein Prophet, und erst recht nicht "der" Prophet sein kann.[15] Diese Aussage ist jedoch erst seitens des Lesers aus dem Kontext zu erschließen.

Dieser kontextuelle Zusammenhang hat schließlich dazu geführt, dass die Exegese berechtigterweise in Nikodemus den Verteidiger Jesu gesehen hat. Danach ist 7,51 ein Einwand gegen die pharisäische Verurteilung Jesu. Nach meiner Übersetzung (1) (s.o. 1.) kann man verstehen: Die Tora richtet niemanden, den sie nicht zuerst angehört hat, um so festzustellen, ob ihr Richtspruch der Person des Angeklagten gerecht wird. Die Tora legt sich selbst Rechenschaft über ihr Tun (das Richten) ab. Folglich ist nach dem Kontext zu ergänzen: Wenn dies von der Tora gilt, so sollten sich die menschlichen Richter ebenso verhalten, und vor einer Verurteilung zunächst den Angeklagten persönlich anhören, damit kein ungerechtfertigtes Urteil gefällt wird.

2.3. Der theologische Hintergrund: Jesus als der "Mensch"

Worin aber besteht dann die Vorverurteilung Jesu? Hier kommt nur eine einzige Aussage in Betracht, nämlich der Vorwurf der Pharisäer, Jesus führe das gesetzesunkundige Volk (und die Amtsdiener) "in die Irre" (7,47). Bereits in 7,31-32 wurde die Entsendung der Amtsdiener, die Jesus greifen sollen, damit begründet, dass das gemeine Volk über Jesu Messianität "tuschelt"[16] und viele von ihnen an ihn glauben. Der Vorwurf gegen Jesus lautet also: Er verführt das gesetzesunkundige Volk dazu, in ihm den Messias (7,41) und den Propheten (7,40) zu sehen, wobei jedem Schriftkundigen sofort klar sein müsste, dass dieser Anspruch zu Unrecht besteht: aus Galiläa kommt kein Prophet.

2.3.1. Die Identität Jesu

Demzufolge liegt die Pointe des Abschnitts darin, dass das Urteil der Pharisäer über Jesus - wie auch ihr Urteil über das gesetzesunkundige Volk - durchaus unangemessen ist, weil es sich auf ganz vordergründige Annahmen und Vorurteile stützt. Johannes will dem Leser in Abgrenzung gegen die Pharisäer die Einsicht vermitteln, dass der wahren Identität Jesu auf vordergründiger Ebene nicht beizukommen ist. Der Rückverweis auf die Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus in 7,50 ist ein deutliches Signal, diese beiden Szenen miteinander in Verbindung zu bringen. Erst wer - wie Nikodemus in Joh 3,1-21 - Jesus selbst gehört hat, der kann von ihm erfahren, dass seine wahre Herkunft nicht in Galiläa zu suchen ist, sondern in ganz anderen Regionen: er ist der "vom Himmel Herabgestiegene", der "Menschensohn" (3,13) und der "einziggeborene Sohn Gottes" (3,16.18). Insbesondere gibt es nach Auskunft Jesu gegenüber Nikodemus nicht nur eine Geburt "aus Fleisch", sondern auch eine "Geburt aus Geist" (3,6), und dies ist die für das Verständnis Jesu entscheidende Kategorie (vgl. auch 7,28-29; 8,23). Nikodemus also, der im Unterschied zu den anderen Pharisäern gehört hat, was Jesus sagt und tut, hat zumindest eine Ahnung davon, dass Jesus nicht nach äußeren Kriterien be- und verurteilt werden darf, sondern dass es für ein gerechtes Urteil einer persönlichen Begegnung mit ihm bedarf. Wiederum ist dieser hintergründige Zusammenhang nicht den Pharisäern auf der Handlungsebene der Erzählung zugänglich, sondern nur dem Leser, dem Joh 3 ins Gedächtnis gerufen wurde.

Johannes bringt dem Leser auf diese Weise ein tiefergehendes Verständnis von Jesu Identität nahe. Der Text hat nicht in erster Linie die Verurteilung der Pharisäer im Blick - ihr Unverständnis dient lediglich als Abgrenzungsfolie und hat damit rein instrumentellen Charakter -, sondern die Hinführung des Lesers zu einer umfassenderen Einsicht in das Wesen Jesu. Hier zeigt sich konkret, was am Ende des Evangeliums als sein Zweck hervorgehoben wird: "Diese (Zeichen) aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen" (Joh 20,31). Das Ziel des Evangeliums ist nicht die Beschreibung von Tatsachen, sondern das Hineinnehmen des Lesers in das Geheimnis Jesu als des personifizierten Wortes Gottes. Dazu lassen sich nähere Anhaltspunkte gewinnen aus einer weiteren Szene des Evangeliums, die mit 7,40-52 in Beziehung steht:

Ähnlich wie im nächtlichen Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus schildert auch Joh 1,45-51 die besondere Dimension der persönlichen Begegnung zwischen Jesus und einem suchenden Menschen. Hier ist es Natanael, der Jesus gegenüber zunächst ein Unverständnis zeigt, das durchaus mit der Auffassung der Pharisäer von 7,52 korrespondiert: "Kann denn aus Nazaret etwas Gutes sein?" (1,46). So unzweifelhaft Jesu Herkunft aus Nazaret in Galiläa als Sohn des Josef ist (Joh 1,45), so eindeutig erweist er sich auch gegenüber dem zuerst zweifelnden Natanael bei näherem Hinhören und Hinsehen eben nicht nur als "Sohn Josefs", sondern als der "Sohn Gottes" und "König Israels" (1,49). Darüber hinaus steht am Ende der Natanael-Szene ganz pointiert eine Offenbarung Jesu als der "Menschensohn":
"Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigend über den Menschensohn" (1,51).
Im Zentrum der Nikodemus-Szene findet man ebenfalls eine Menschensohn­Offenbarung Jesu, die ein ähnliches Bild verwendet:
"Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen, außer dem aus dem Himmel Herabgestiegenen: der Menschensohn. Und wie Mose die Schlange erhöht hat in der Wüste, so muss erhöht werden der Menschensohn, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben habe" (3,13-15).

Es zeigt sich so, dass die Menschensohn-Offenbarung das eigentliche Ziel dieser Gespräche mit Jesus - man könnte auch sagen: seiner "Anhörungen" - ist. Wer Jesus selbst gehört hat, der wird nicht mehr wie Natanael in 1,46 ein oberflächliches Urteil über Jesu Herkunft aus Galiläa fällen können, denn er wird Größeres sehen: den geöffneten Himmel und "die Engel Gottes über den Menschensohn auf- und niedersteigend" (1,50-51). Und er wird nicht wie Nikodemus in 3,4.9 daran zweifeln, dass es eine geistige Geburt gibt, die sich bei Jesus als dem Menschensohn in seiner "Herabkunft vom Himmel" (3,13) zeigt.

Aus diesen Zusammenhängen im Evangelium ergibt sich für 7,51 ein weitergehender Verdacht. Die mit Joh 7,51-52 inhaltlich verknüpften Szenen 1,45-51 und 3,1-21 sprechen zentral von Jesus als dem Menschensohn (ho huios tou anthrôpou). Wenn nun im Einwand des Nikodemusin 7,51 ganz pointiert davon die Rede ist, dass die Tora "den Menschen" (ton anthrôpon) nicht richtet, und auf der Bedeutungsebene des Textes mit diesem Ausdruck unzweifelhaft Jesus selbst gemeint ist, so liegt es nahe, in diesem einfachen "der Mensch" mehr zu erkennen, als lediglich die Bezeichnung irgendeines Individuums. Die besondere Stellung des einfachen anthrôpos in 7,51 wird noch unterstrichen durch die Aussage der zurückkehrenden Amtsdiener in V.46: "Niemals redete so ein Mensch!"[17]. Wenn auch das Wort hier durchaus zunächst unemphatisch verstanden werden muss, so fällt doch die wiederholte Verwendung auf. Darüber hinaus erweist sich gerade in der erstaunten Feststellung der Amtsdiener, dass Jesus mit einer übermenschlichen Autorität spricht, die ihn als einzigartig ausweist und ihn geradezu heraushebt aus dem, was gemeinhin als menschliche Natur gilt.[18] Dadurch wird der Leser bereits darauf hingewiesen, dass Jesu Bezeichnung als "der Mensch" besondere Aufmerksamkeit beanspruchen kann: Jenseits der Handlungsebene von 7,51 kann das Wort mehr bedeuten, als es der unmittelbare Kontext an sich vermuten lässt. Dann ist es möglich, darin eine hintergründige Anspielung auf den christologischen Hoheitstitel "der Menschensohn" zu erkennen.[19] Der Zusammenhang zwischen dem einfachen ho anthrôpos und dem Titel huios tou anthrôpou ist allein schon deshalb sprachlich evident, da beide Begriffe nach semitischem Sprachgebrauch gleichermaßen "der Mensch" bedeuten können.[20] Für das Johannesevangelium ist nach C. Colpe zu vermuten, dass "dem Evangelisten (...) die Bedeutung Mensch für huios tou anthrôpou noch gegenwärtig gewesen"[21] sei. Ferner ist die gedankliche Verbindung zwischen 7,51-52 und den Menschensohn-Worten von 1,51 und 3,13-14 so stark, dass eine Beziehung zwischen den Begriffen "der Mensch" und "der Menschensohn" als Bezeichnungen Jesu geradezu naheliegen. Dazu müsste allerdings im Kontext des ganzen Evangeliums gezeigt werden, dass das einfache anthrôpos bereits von sich aus auf diesen Zusammenhang hinweist. Dieser Nachweis ist unschwer zu erbringen. Das einzigartige "Ecce Homo" von Joh 19,5b ist geradezu das johanneische Paradebeispiel für einen hintergründigen titularen Charakter des Wortes.

2.3.2. Das "Ecce Homo", eine Selbstoffenbarung Jesu

Für viele Exegeten zeigt die herausragende Stellung des "Ecce Homo" in der Johannespassion, dass der Evangelist mit diesen Worten mehr ausdrücken will, als nur die Vorführung des verspotteten "Königs der Juden" durch Pilatus.[22] Man rechnet durchweg mit einer Doppelbödigkeit der Bezeichnung anthrôpos, die nur vordergründig Ausdruck der Absicht des Pilatus sei, die Juden davon zu überzeugen, dass diese erbärmliche Spottfigur Jesus tatsächlich nicht der "König der Juden" sein kann. Hintergründig erscheine Jesus aber in der Intention des Evangelisten als ein ganz anderer. Worin nun allerdings seine Andersartigkeit besteht, darüber gehen die Meinungen so stark auseinander, dass hier nicht versucht werden soll, sie auch nur annähernd angemessen darzustellen. Es kann für unseren Zusammenhang genügen, darauf hinzuweisen, dass die These von einem titularen Sinn des anthrôpos als Anspielung auf den "Menschensohn" die weiteste Verbreitung gefunden hat.[23] Angesichts der fast schon unüberschaubar gewordenen Fülle der Interpretationen zu diesen drei Worten - C. Panackel stellt die exegetischen Meinungen unter nicht weniger als zwölf Kategorien zusammen[24] - ist es jedoch höchst auffallend, dass einer viel grundsätzlicheren Frage von keinem der bei Panackel erwähnten Exegeten - und das sind immerhin alle wichtigen Autoren von Augustinus bis heute - auch nur die geringste Aufmerksamkeit gewidmet wird. Überall wird selbstverständlich vorausgesetzt, das "Ecce Homo" werde von Pilatus gesprochen. Trotz des Gewichts der christlichen Tradition muss jedoch festgestellt werden: Diese Auffassung ist keineswegs so zwingend, wie es scheinen mag. Ganz im Gegenteil: Aufgrund des übereinstimmenden Zeugnisses der Handschriften ist es unter Beachtung einfachster syntaktischer und semantischer Regeln sprachlich eher unwahrscheinlich, dass Johannes Pilatus die Worte idou ho anthrôpos sprechen lässt, vielmehr deutet einiges darauf hin, dass Jesus selbst der Redende ist.[25]

Joh 19,4-5 lautet:
"Und abermals ging Pilatus hinaus und sagt zu ihnen: Seht, ich führe ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt, dass ich keinerlei Schuld finde in ihm. Jesus nun ging hinaus, tragend die Dornenkrone und das purpurne Gewand, und er sagt zu ihnen: Siehe, der Mensch."[26]

Das vor dem "Ecce Homo" zuletzt ausdrücklich genannte Subjekt ist Jesus in 19,5a, nicht Pilatus. Das Verb legei ("er sagt") in 19,5b kann syntaktisch zunächst nur auf dieses Subjekt bezogen werden. Die Syntax des griechischen Textes widerspricht also bereits dem traditionellen Verständnis dieses Verses.[27] Hinzu kommt eine semantische Beobachtung: Die Hinweispartikel idou ("siehe") findet man sonst im Johannesevangelium mit Ausnahme des atl. Zitates Joh 12,15 ausschließlich im Mund Jesu und in ausgesprochenen Offenbarungsreden (s. 4,35; 16,32). Dieser spezifische Gebrauch wird umgekehrt unmissverständlich bestätigt von 19,4 und 19,14, wo Johannes die wörtliche Rede des Pilatus zweimal gerade nicht mit idou einleitet, sondern mit ide.[28] Der unmittelbare semantische Kontext des "Ecce Homo" macht es also ebenfalls höchst unwahrscheinlich, dass Pilatus dort redet. Jeder Exeget, der dagegen an Pilatus als Aussagesubjekt festhalten will, muss diese Ansicht gegen den offenbaren Textbefund begründen und stichhaltige Beweise erbringen, dass Jesus nach dem szenischen Kontext nicht der Redende sein kann. Der stillschweigenden Übernahme selbst jahrhundertealter christlicher Tradition kann dabei keinerlei Beweiskraft zukommen. Deshalb muss abschließend gefragt werden, ob das dramaturgische Gefüge der Szene es gegen den klaren Textgehalt erforderlich macht, Pilatus als Redenden zu identifizieren, wobei eine Rückwärtspronominalisierung des legei auf Pilatus über den Subjektwechsel zu Jesus hinweg notwendig wäre. Gibt es dafür zwingende inhaltliche Gründe? Zur Beantwortung dieser Frage muss die ganze Verspottungsszene Joh 19,1-5 betrachtet werden. Die Ausstaffierung Jesu als "König der Juden" (19,3) seitens der Römer hat eindeutig den Sinn, die Juden von der Unschuld Jesu zu überzeugen. Das ergibt sich klar aus der Ankündigung des Pilatus 19,4: "Seht, ich führe ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt, dass ich keinerlei Schuld finde in ihm". Warum aber sollte Johannes dann Pilatus die Worte "Siehe, der Mensch" sprechen lassen, wenn Pilatus gerade versucht, Jesus als den "König der Juden" lächerlich zu machen und die Juden damit von der Unhaltbarkeit einer politischen Anklage zu überzeugen? In diesen Rahmen würde eine Aussage des Pilatus: "Seht, euer König" (so 19,14) doch viel besser passen, insofern dadurch die Verhöhnung Jesu erst recht auf die Spitze getrieben wäre. Die Szene 19,1-5 erzählt vom Spott der Römer. Angesichts dessen wäre der Hinweis des Pilatus auf Jesu Menschlichkeit ein eklatanter Stilbruch. Wenn das übliche Verständnis richtig wäre, hätte Johannes seinem Text selbst die Pointe genommen. Darüber hinaus ist zu fragen: Kann es dem Leser auch nur ansatzweise plausibel erscheinen, dass ihn aus dem Mund des vollkommen ignoranten Pilatus (s. 18,38; 19,9­12) ein verborgenes Offenbarungswort erreicht, dessen tiefreichender theologischer Gehalt seinesgleichen sucht im ganzen Evangelium? Das ist selbst dann unwahrscheinlich, wenn man berücksichtigt, dass Johannes auch anderen Personen durchaus offenbarende Reden in den Mund legt. Solch ein Fall liegt z.B. 11,50-51 bei der Deutung des Todes Jesu durch Kaiphas vor. Aber dort wird Kaiphas in einem Kommentar des Evangelisten auch ausdrücklich als Hoherpriester und Prophet vorgestellt, so dass es sich zwar um eine ihm unbewusste Offenbarung handeln kann, sie aber durch die Autorität seines Amtes legitimiert erscheint.

Diese Erwägungen zeigen, dass es keine zwingenden Gründe gibt, den Text von 19,5b entgegen der sprachlichen Struktur als Aussage des Pilatus zu verstehen. Solange solche Gründe fehlen, ist davon auszugehen, dass Jesus selbst spricht. Es kann deshalb behauptet werden: Der johanneische Jesus stellt sich Pilatus und den Juden (und damit jedem Leser des Evangeliums) selbst als der anthrôpos vor. Das "Ecce Homo" Jesu kann dann als seine letzte Selbstoffenbarung vor dem Kreuzestod überhaupt gedeutet werden. Die Bezeichnung "der Mensch" bei Johannes ist also keine Bezeichnung, die Jesus nur von anderen erhält, vielmehr identifiziert er sich in herausragender Weise selbst so.

Mit diesem Ergebnis ist völlig klar, dass das Wort anthrôpos in Joh 19,5b als offenbarende Selbstbezeichnung Jesu titularen Charakter hat, und somit in unübersehbarem Zusammenhang mit dem Titel "Menschensohn" steht. Wenn aber Jesus selbst sich hier offenbart, dann ist zu fragen, warum der Evangelist nicht gleich diesen Titel verwendet. Unter der Annahme, das "Ecce Homo" werde von Pilatus gesprochen, sind einige Exegeten zu dem Schluss gelangt, Johannes vermeide hier den vollständigen Titel, weil er im Mund des Pilatus allzu unwahrscheinlich klänge.[29] Dieses Argument gilt umgekehrt auch unter der Voraussetzung, dass Jesus spricht. Denn nun gibt es ja keinen Anlass mehr, aus Plausibilitätsgründen das huios tou anthrôpou zu vermeiden. Wenn es dennoch nicht auftaucht, so muss dafür eine Erklärung gefunden werden. Unter Beachtung des Kontextes fällt ein Erklärungsversuch aber nicht schwer. Das "Ecce Homo" richtet sich kaum nur an die jüdischen Hohenpriester und Amtsdiener, die es mit dem Kreuzigungsruf beantworten (19,6a), sondern offenbar gleichermassen an Pilatus. Wenn Jesus von den Römern gerade als "König der Juden" lächerlich gemacht wurde (19,1-4), so ist das "Ecce Homo" eben auch eine eindeutige Zurückweisung dieses Königstitels. Jesus ist nicht in dem Sinne ein "König der Juden", wie Pilatus den Titel versteht - nämlich als einen weltlich-politischen Herrschaftsbegriff (vgl. 18,36-38). Mit der Aussage: "Siehe, der Mensch" weist Jesus den römischen Statthalter darauf hin, dass er mit seiner ganzen "Königs-Inszenierung" völlig falsch liegt, und nichts von Jesu Identität verstanden hat. Jesus ist keineswegs ein politischer Herrschaftsaspirant, sondern will gegenüber Pilatus nur einfach als "der Mensch" erscheinen, so wie er von Pilatus auch zunächst bezeichnet wurde: "Welche Anklage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?" (18,29).

Dies ist aber nur die eine Kommunikationsebene. Auf anderer Ebene vollzieht sich ein weit tiefergehendes Geschehen, das - eingeleitet durch die Kreuzigungsrufe der Juden - die Vollendung des Heilsweges Jesu am Kreuz zum Ziel hat. Zusammen mit den königlichen "Insignien" Dornenkrone und Purpurmantel ist es in erster Linie das "Ecce Homo", das die Juden zu ihrem "Kreuzige, kreuzige" veranlasst. Was sich hier mit dem Kreuzigungsruf zum ersten Mal im Evangelium konkret andeutet, ist die Erfüllung mehrerer Deuteworte Jesu zu seiner Erhöhung als Menschensohn:
"Und wie Mose erhöht hat die Schlange in der Wüste, so muss erhöht werden der Menschensohn" (3,14)
"Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin" (8,28).

Entscheidend für unsere Fragestellung ist hier, dass Johannes zweimal die Ansage der Kreuzigung (= "Erhöhung") mit dem Menschensohn-Titel verbindet. Es kann kaum bezweifelt werden, dass für 19,5-6, wo diese Ankündigung zum ersten Mal im Evangelium konkret zu werden verspricht, diese beiden Deuteworte entscheidendes Gewicht erhalten.[30] Es zeigt sich dann, dass sich das "Ecce Homo" zusammen mit dem Kreuzigungsruf der Juden eindeutig auf die Identifizierung Jesu als des Menschensohnes bezieht. Lediglich wegen der doppelten Aussagerichtung des Wortes - nicht nur gegenüber den Juden, sondern auch gegenüber Pilatus - hat Johannes das eindeutige huios tou anthrôpou zugunsten des einfachen anthrôpos vermieden.

Mit diesem Ergebnis liegt es geradezu nahe, auch an anderen Stellen des Evangeliums, die von Jesus als dem "Menschen" reden, in dieser Bezeichnung eine Anspielung auf einen messianischen Titel zu vermuten. Der für Joh 7,51 zu beobachtende Zusammenhang zwischen dem prophetischen "Menschen" Jesus und seiner Offenbarung als "Menschensohn" gegenüber Nikodemus und Natanael macht es dann gewiss, dass hinter dem anthrôpos von 7,51 der huios tou anthrôpou im Vollklang seiner messianischen Bedeutung steht. Hier offenbart Johannes dem Leser bereits im Vorgriff auf das spätere "Ecce Homo" die wahre Identität Jesu, die alle vordergründige Spekulation über seinen Anspruch als Prophet in den Schatten stellt. Es sei noch einmal betont: dieser Zusammenhang ergibt sich nicht auf der Handlungsebene des Textes, sondern allein aufgrund der tiefergehenden Bedeutungsebene, die der Leser auf dem Hintergrund der ganzen Szene und unter Berücksichtigung von Joh 1,45-51 und 3,1-21 erkennen kann.

3. Resümee: Joh 7,51 - ein theologisches Kunstwerk

Joh 7,51 erweist sich so als ein sprachliches Kunstwerk, das zwei verschiedene Argumentationsebenen zusammenbringt. Auf der unmittelbaren Handlungsebene geht es um die Verteidigung des gesetzesunkundigen Volkes gegen seine Verurteilung durch die Pharisäer: Es kann nicht verflucht sein, weil es nichts von der Tora weiß, und ihm deshalb die Kategorien zu einem toragemäßen Handeln fehlen. Jenseits der Handlungsebene geht es um die Verteidigung Jesu und die Bedingungen, unter denen er erkannt werden kann: Er darf nicht lediglich nach äußeren Kategorien beurteilt werden, sondern es bedarf einer persönlichen offenbarenden Begegnung mit ihm, die es erlaubt, seine wahre Herkunft und Identität zu erfassen. Jesus erscheint dann nicht mehr nur einfach als "ein Mensch", sondern ist als der "Menschensohn" der göttliche Offenbarer für jeden, der ihm nur offen genug zuhören will.

Beide Ebenen zusammengesehen ergeben folgendes Bild: Die Erkenntnis Jesu eröffnet insbesondere jenen einen Zugang zur Offenbarung Gottes, denen anders - nämlich durch die Tora - kein Weg dorthin offensteht. Die Auseinandersetzung um das gesetzesunkundige Volk ist von der Auseinandersetzung um Jesus nicht zu trennen, denn es geht grundlegend um dasselbe Thema. Das Thema der ganzen Szene Joh 7,32-52 ist die Situation des gesetzesunkundigen und damit quasi-heidnischen Volkes und der Weg Jesu zu ihm: seine heilsgeschichtliche Sendung zur Rettung der Heiden, denen - im Unterschied zu den gesetzestreuen Juden - die rettende Offenbarung in der Tora nicht zugänglich ist, und die deshalb in Jesus ihren Offenbarer finden müssen.

Die hintergründige theologische Ausgestaltung der Szene mit ihren Anspielungen auf verschiedene wesentliche Abschnitte des Evangeliums, die sich um die Identität Jesu drehen, dient aber letztlich dazu, dem Leser selbst diese Offenbarung erschwinglich zu machen. Allerdings bedarf es dazu wirklich seines Aufschwungs über die Ebene der geschilderten Handlung hinaus auf die Höhe der Offenbarung des logos selbst. Dies ist die eigentliche Wirkungsweise der johanneischen Technik des "impliziten Kommentars" (Culpepper): Johannes zieht den Leser vom Buchstaben des Textes hinein in die Ebene seines geistigen Gehalts und lässt ihn teilhaben an einem Prozess der Transformation, dessen Ziel die Erfahrung von Sinn und Bedeutung der Sendung Jesu ist, letztlich die Erfahrung des "Geborenwerdens von oben", welches die Voraussetzung dafür ist, dass man in das "Königtum Gottes" hineinkommt (Joh 3,5). Der Text selbst leistet dem Leser "Geburtshilfe aus dem Geist" (s. Joh 3,6-8), damit er Anteil erhält an dem unendlichen Leben, das ihm durch die Sendung Jesu und die "Erhöhung des Menschensohnes" (Joh 3,14-16) ermöglicht wird.[31]

Abschließend bleibt noch ein Wort zu sagen hinsichtlich der Rolle, die Johannes in 7,45-52 den Pharisäern zuweist. Der Handlungsverlauf zeigt, dass jene pharisäischen Kreise, die sich hier im Besitz der Tora wähnen und mit Misstrauen und Überheblichkeit auf das gesetzlose Volk herabblicken, tatsächlich nicht toragemäß handeln. Denn sie verurteilen dort, wo die Tora selbst kein Urteil spricht. Die Szene stellt unter Beweis, dass es nicht Jesus ist, der solches Verhalten richtet. Die Pharisäer haben ihren Richter bereits in der Tora selbst (vgl. Joh 3,17; 5,45-47). Ihr völlig ungerechtfertigtes Urteil über das einfache Volk (am ha'ares) und Jesu Hinwendung zu ihm, sowie ihre unsachliche Polemik gegen Nikodemus entlarvt sie als unbarmherzige Rigoristen, die weder das Volk, noch Jesus verstehen.

Es wäre aber falsch, darin nun seitens des Evangelisten eine ebenso rigorose Verurteilung der Pharisäer schlechthin zu sehen. Zum einen schildert Johannes ja gerade einen Streit zwischen zwei unterschiedlichen pharisäischen Einstellungen. Zwar steht Nikodemus allein gegen "die Pharisäer", aber dennoch heißt es immer noch von ihm, dass er "einer von ihnen" (7,50) war. Zum anderen zeigt Joh 9,16 ebenfalls eine differenzierte pharisäische Reaktion auf Jesu Heilung des Blindgeborenen. Dort hebt Johannes ausdrücklich hervor, dass ihre Einstellung gegenüber Jesus durchaus nicht einheitlich feindlich oder unverständig ist: "Da sagten einige von den Pharisäern: Dieser Mensch (Jesus) ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält. Andere aber sagten: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Eine Spaltung war also unter ihnen".

Das Handeln Jesu fordert hier wie dort neben dem Volk (s. 7,12.43) auch die Pharisäer in die Entscheidung, und sie fällt keineswegs uniform gegen Jesus aus. Dies ist bei aller sonst zu beobachtenden Kritik des Johannesevangeliums an den Pharisäern (vgl. 9,39-41) zu berücksichtigen. Eine Vernachlässigung dieser johanneischen Differenzierungen führt geradewegs zu antijüdischen Pauschalurteilen, an denen es in der Geschichte der christlichen Lektüre des vierten Evangeliums nicht gefehlt hat. Gerade in der prominenten Gestalt des Pharisäers Nikodemus, von dem nirgends gesagt wird, dass er sich von seiner jüdischen Identität losgesagt hätte, liefert Johannes ein eindrucksvolles Beispiel für Dialogfähigkeit und unerschrockene Wahrheitssuche.

Bei alledem darf auch die grundlegende Perspektive der johanneischen Darstellung nicht vernachlässigt werden. Die Schilderung des pharisäischen Verhaltens dient eigentlich nicht ihrer Verurteilung, sondern geschieht nur im Hinblick auf das übergeordnete Ziel, die Aufmerksamkeit des Lesers zu schärfen für jene Fragen, die ihn zu tieferer Einsicht in das Wesen Jesu führen sollen. Die Charakterisierung der Pharisäer (einschließlich des Nikodemus) hat also rein funktionalen Wert für das Ziel des Evangeliums: "damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen" (Joh 20,31). In Joh 7,45-52 geht es nicht um Verurteilung,  sondern um die literarische Veranschaulichung eines zutiefst menschlichen Phänomens: die Trägheit des Menschen, die es ihm so außerordentlich schwer macht, die Schwelle des nur Berechenbaren und der materiellen Selbstverständlichkeiten zu durchbrechen. Dass Jesus missverstanden wird, ist keineswegs außergewöhnlich, sondern eher die Regel - das trifft sogar noch auf den engeren Jüngerkreis zu (vgl. Joh 13,22-14,22; 16,17­33). Insofern wird dem Leser des Johannesevangeliums mit Nikodemus und den Pharisäern nur selbst der Spiegel vorgehalten, damit ihm daran seine eigenen Einstellungen überprüfbar und hinterfragbar werden mit dem Ziel, ihn für ein tieferes Verständnis der Sendung Jesu vorzubereiten. Zuletzt kann in diesem Zusammenhang auch das Missverständnis der christlichen Exegese über die Bedeutung des Ecce Homo von Joh 19,5b und das mangelnde Gespür für die Doppeldeutigkeit von Joh 7,51 eine Warnung bedeuten. Es sind nicht nur die Pharisäer im Johannesevangelium, die Jesus und seine Botschaft nicht verstehen konnten. Auch christliche Ohren sind durchaus nicht von vornherein gegen ein falsches oder unzureichendes Verständnis der christlichen Botschaft gefeit. Die Suche nach der Wahrheit über Jesus ist keineswegs abgeschlossen, und man muss sich auch heute noch auf manche Überraschung bei der Lektüre insbesondere des Johannesevangeliums einlassen, wenn man nur bereit ist, es beim Wort zu nehmen.

Zusammenfassung

Die Auseinandersetzung zwischen Nikodemus und den Pharisäern in Joh 7,47-52 ist eine vom Evangelisten sprachlich tiefgründig gestaltete Szene. Entgegen dem in der Exegese üblichen Verständnis verteidigt Nikodemus zunächst auf der Handlungsebene das "gesetzesunkundige Volk" gegen Beschuldigungen seitens der Pharisäer, es sei verflucht ("Richtet denn unser Gesetz den Menschen, ohne dass er (der Mensch) zuerst von ihm (dem Gesetz) gehört hat, und er weiß, was er tut?"). Darüber hinaus kann der Leser in denselben Worten eine Verteidigung Jesu erkennen. Die Bezeichnung Jesu als "der Mensch" verweist auf den christologischen Titel ho anthrôpos, der bei Johannes vor allem durch das "Ecce Homo" (Joh 19,5b) eine herausragende Rolle spielt. Das "Ecce Homo" wird nicht von Pilatus gesprochen, sondern ist eine Selbstoffenbarung Jesu. Auf diesem Hintergrund haben auch die Worte des Nikodemus in 7,51 tieferen Offenbarungsgehalt, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung Jesu für das gesetzesunkundige Volk.


[1] Vgl. dazu mit reichem Quellenmaterial: H. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 1924, 494-519.

[2] Vgl. Strack-Billerbeck, Kommentar II, 500-519. Obwohl diese Quellen durchweg aus der Zeit nach der Abfassung des Johannesevangeliums stammen, so ist doch damit zu rechnen, dass sich die pharisäische Haltung gegenüber dem ¦am ha¦ares bereits vor dieser Zeit ausgebildet hat und im weiteren Verlauf der Konsolidierung des rabbinischen Judentums ihre geprägte Gestalt in den rabbinischen Schriften fand. Johannes beschreibt jedenfalls der Sache nach den gleichen Konflikt; vgl. dazu nur R. Meyer, Art. "qloc", in: ThWNT 5, 582-590, hier 587-590. Zum Namen Farisaoi s. R. Meyer, Art. "Farisaoc", in: ThWNT 9, 11-36, hier 12-13.15-16.

[3] Vgl. die ähnliche Kritik der joh. Pharisäer am "Volk" in Joh 12,18-19.

[4] Zu den textlinguistischen Begriffen "Syntaktik" und "Semantik" (s.u.) im exegetischenZusammenhang vgl. H. Frankemölle, Biblische Handlungsanweisungen. Beispiele pragmatischer Exegese, Mainz 1983, 21-28; W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg 1990, 77-133.

[5] Vgl. nur stellvertretend für das übliche Verständnis R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK, 2), Göttingen 211986, 235. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium 2. Teil (HThK, IV,2), Freiburg 1971, 210; C.K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes (KEK, Sonderband), Göttingen 1990, 324 u. 338.

[6] Übersetzung nach J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-10 (ÖTK 4/1), Gütersloh - Würzburg 21985, 271. Sämtliche anderen Übersetzungen weichen nur in Nuancen davon ab.

[7] W. Bauer, Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin - New York 61988, 61-62.

[8] Allerdings ist eine dem Standpunkt des Nikodemus vergleichbare Meinung in der rabbinischen Literatur nicht nachweisbar; s. H. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 1926, 211.

[9] So argumentiert auch Bultmann, Johannes, 236 (Anm. 1).

[10] Bultmann, Johannes, 235-236 (Anm. 5).

[11] Das wurde schon festgestellt von W. Bauer, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 31933, 115.

[12] Bultmann, Johannes, 234-235 (Anm. 6), hat darauf hingewiesen, dass sich im 2. Jhdt.n.Chr. ein spezieller (rabbinischer) Sprachgebrauch herausgebildet hat, wonach insbesondere die galiläische Landbevölkerung als am ha'ares bezeichnet wurde. Möglicherweise bezeugt unsere Stelle, dass dieser Sprachgebrauch bereits im 1. Jhdt. vorhanden war.

[13] Vgl. R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983, 149-202.

[14] Culpepper, Anatomy, 233.

[15] Die Grundschrift von P66 (P66*) hat das Wort profetes mit dem Artikel ("der Prophet"). Diese singuläre Lesart erklärt sich dadurch, dass offenbar bereits ein früher Abschreiber den Titel ausschließlich auf Jesus gedeutet hat. Die Lesart ohne Artikel ist jedoch vorzuziehen, da sie 1. gut bezeugt ist, und 2. dem Kontext entspricht, der ja eindeutig in erster Linie auf die prophetischen Qualitäten des Nikodemus abhebt. Jesu Titulierung als "der Prophet" findet sich nur in Aussagen des einfachen Volkes; vgl. neben 7,40 auch 6,14.

[16] Das Verb gonguzô kann hier kaum mit "murren" übersetzt werden, denn daraus spräche Unwillen des Volkes gegenüber Jesus. Im vorangegangenen Vers aber wurde ganz im Gegensatz dazu erzählt, dass viele aus dem Volk glauben und in Jesus den Messias vermuten.

[17] Etliche Handschriften betonen noch das Wort "ein Mensch", indem sie es noch einmal wiederholen: "Niemals redete so ein Mensch, wie dieser Mensch redet" (P66*, 1* u.a.).

[18] Vgl. dazu C. Panackel, IDOU O ANTHRÔPOS (Jn 19,5b). An exegetico­theological study of the text in the light of the use of the term anthropos designating Jesus in the Fourth Gospel (Analecta Gregoriana 251, Series Facultatis Theologiae, Sectio B, n. 85), Rom 1988, 121-122.

[19] Einen solchen Verdacht äußert auchCulpepper, Anatomy, 171-172.

[20] Vgl. C. Colpe, Art. "ho huios tou anthrôpou", in: ThWNT 8, 403-481, hier 404-408.

[21] Colpe, "ho huios tou anthrôpou", 417.474.

[22] Einen Überblick über die exegetischen Standpunkte zu diesem Problem geben R. Schnackenburg, Die Ecce-homo­Szene und der Menschensohn, in: R. Pesch, R.Schnackenburg (Hgg), Jesus und der Menschensohn (= FS A. Vögtle). Freiburg 1975, 371-386, und vor allem Panackel, IDOU O ANTHRÔPOS, 312-325.

[23] So Panackel, IDOU O ANTHRÔPOS, 315.

[24] Panackel, IDOU O ANTHRÔPOS, 312-322.

[25] Panackel, IDOU O ANTHRÔPOS, 291 (Anm. 1) verweist lediglich auf zwei Autoren, die ebenfalls dieser Meinung sind. Beide werden nur in Werken Dritter am Rande erwähnt: Cruyskerkius bei F. A. Lampe, Commentarius analytico-exegeticus tam literalis quam realis Evangelii secundum Joannem III, Basileae 1727, 565 (Anm. e) und J. Tomin bei J. L. Houlden, John 19,5: "And he said to them, Behold, the man", in: The Expository Times (Edinburgh) 92 (1981), S. 148-149, hier 148A.

[26] Abweichungen von diesem Text findet man lediglich in P66*, der den Vers 5b ganz auslässt, und in B, wo der Artikel vor anthropos fehlt.

[27] Der deutschen "Einheitsübersetzung" und der revidierten Lutherbibel (1984), hinter denen u.a. die Autorität der katholischen Bischöfe Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, sowie der Evangelischen Kirchen Deutschlands steht, muss in diesem Zusammenhang sogar vorgeworfen werden, massiv in den handschriftlich bezeugten Wortlaut eingegriffen zu haben. Dort heißt es nämlich in Joh 19,5b entgegen dem klaren Befund in den Handschriften: "Pilatus sagte zu ihnen" (Einheitsübersetzung), bzw. "Und Pilatus spricht zu ihnen" (Lutherbibel)! Den evangelischen und katholischen Christen im deutschen Sprachraum wird so offiziell in Verkündigung und Lehre ein falscher Text geboten, der einen unvoreingenommenen Zugang zum Verständnis derSzene von vornherein unmöglich macht. Angesichts dieser eigenmächtigen und ungerechtfertigten Interpretation muss in der Tat bezweifelt werden, ob namentlich die Einheitsübersetzung an dieser Stelle dem vom Zweiten Vaticanum geforderten Anspruch gerecht wird, "einen wissenschaftlich gesicherten Zugang zur Botschaft der Heiligen Schrift zu bieten", obwohl sich die Bischöfe in ihrem Vorwort (S. VI) davon überzeugt zeigen.

[28] Die Tatsache, dass mehrere späte Handschriften (A, Dsuppl, G, D, J, F, pm) auch in 19,5b das Wort de lesen, spricht entschieden dafür, dass do ursprünglich ist. Offenbar versuchen diese Handschriften den Text anzugleichen, weil sie ihn als Aussage des Pilatus (miss-)verstehen.

[29] Vgl. etwa J. Blank, Die Verhandlung vor Pilatus Joh 18,28-19,16 im Licht johanneischer Theologie, in: BZ NF3 (1959), 60-81, hier 75; A. Dauer, Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium. Eine  traditionsgeschichtliche und theologische Untersuchung zu Joh 18,1-19,30, München 1972, 109.

[30] So argumentiert insbesondere Dauer, Passionsgeschichte, 109; ebenso bereits C.H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge 1953, 436-437. Schnackenburg, Ecce-homo-Szene, 378, hat dagegen eingewandt, dass man 8,28 nur auf die vollendete Erhöhung, die Kreuzigung selbst, beziehen könne. Er kommt zu dem Schluss: "Die enge Verkopplung von 8,28 mit 19,5f ist also nicht gerechtfertigt". Nun ist es zwar richtig, dass 8,28 letztlich die erfolgte Kreuzigung deutet, deshalb muss aber eine Beziehung zu 19,5-6 nicht von vornherein unmöglich sein. Dies um so weniger, als bis zu dieser Stelle die Worte "Kreuz" oder "kreuzigen" überhaupt nicht im Evangelium auftauchen, und dem Lesererst hier erstmals die Möglichkeit offensteht, sich der Erhöhungsworte konkret zu erinnern.

[31] Culpepper, Anatomy, 202, fasst die Wirkung des "impliziten Kommentars" bei Johannes so zusammen: "(...) author and reader are drawn together in a shared perception of meaning and reverence before mystery. Together, if the gospel is read in the way in which it calls for itself to be experienced, author and reader are united in the transformation effected by an experience of encounter with transcended mystery. By proper reading of John as symbolic narrative,the reader is called to no less than the conviction that man and God can be united and that from this union new life is born in man, and specifically in the reader".