Biblia LM 2000 *

Was man von der Homöopathie für den Umgang mit der Bibel lernen kann
Von Friedhelm Wessel

In der klassischen Homöopathie gelten zwei grundlegende Prinzipien. Die erste und entscheidende Erkenntnis ihres geistigen Vaters, Samuel Hahnemann, lautet: similia similibus curentur - "Ähnliches wird mit Ähnlichem geheilt". Der Arzt, Apotheker und Chemiker Hahnemann war durchaus nicht der erste mit solchen Gedanken. Bereits Hippokrates und Paracelsus erwähnten das gleiche Prinzip. Und auch die jüdische rabbinische Überlieferung merkt in Mekilta de Rabbi Jischmael zu Hiob 9,17 an: "Die Heilung durch den Heiligen, er sei gepriesen, ist nicht wie die Kur des Menschen. Der Mensch benutzt nicht das gleiche, mit dem er verwundet, denn er verwundet mit dem Messer und verbindet mit einem Pflaster. Der Heilige aber, er sei gepriesen, ist ganz anders, denn er heilt mit dem, mit welchem er schlägt". Treffender kann man die Prinzipien der Homöopathie nicht beschreiben. Es existieren also sehr alte Vorbilder für diese Heilkunst. Hahnemann war aber wohl der erste, der nach eingehenden Experimenten systematisch darstellen konnte, wie der selbe Stoff, der beim gesunden Menschen eine bestimmte Krankheit auslöst, den an eben dieser Krankheit leidenden Menschen zu heilen vermag.

Die zweite Erfahrung Hahnemanns bezieht sich auf die Steigerung der Wirkungsweise solcher Arzneimittel. Er fand heraus, dass der heilende Effekt der Mittel um so größer ist, je mehr die Stoffe in einem langwierigen Prozess verdünnt werden. Man nimmt dazu die Ursubstanz des wirkenden Mittels und mischt sie auf mechanische Weise in bestimmten Verhältnissen (1:10 bis 1:50.000) mit einem Trägerstoff, der fest oder flüssig sein kann. Vom Ergebnis dieser Mischung wird ein kleiner Teil wiederum im gleichen Verhältnis mit dem Trägerstoff vermischt, wodurch eine Substanz 2. Ordnung entsteht. Dieses Verfahren wird nun in mehreren Zyklen - bis zu mehreren hundert - wiederholt. Der überraschende Effekt solcher Technik besteht darin, dass mit der Verdünnung und intensiven mechanischen Vermischung die Wirksamkeit des Mittels proportional steigt. Die Homöopathie spricht dabei von einer "Potenzierung". Erstaunlicherweise wirken diese Mittel, obwohl in dem Endprodukt vom ursprünglichen Stoff materiell so gut wie nichts mehr vorhanden ist. Bei hohen Potenzen entspräche das Verhältnis zwischen Ursprungssubstanz und Trägerstoff etwa der Wirkung eines Tropfen Weins, den man in den Bodensee träufelte und nach intensivem Umrühren verkostete. Niemand würde bei dieser Weinprobe von dem ursprünglichen guten Tropfen noch etwas schmecken können, und selbst mit den ausgefeiltesten elektronischen oder chemischen Messverfahren wäre die molekulare Substanz des Weines im Wasser des Sees nicht mehr nachzuweisen. Dennoch kann die Homöopathie mit diesem Verfahren erstaunliche Heilungserfolge nachweisen.

Was folgt daraus? Offenbar ist es doch der Geist, der hier wirkmächtige und heilende Kraft hat, und nicht etwa die materielle Substanz des Mittels.

Wer unter diesem Blickwinkel einen Blick in das Evangelium nach Johannes wirft, wird überrascht feststellen, dass es schon dort die beiden gleichen Dimensionen der Ähnlichkeit und der Potenzierung sind, mit denen Jesus als das göttliche Wort dem Leser nahe gebracht wird. Und dieser Prozess soll doch ebenfalls heilende Wirkung haben. Da geht es zu Beginn des Evangeliums zunächst um die materielle Substanz: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet" (Joh 1,14). Das meint die physisch erfahrbare, empirisch fassbare Existenz des Wortes. Vor allem im Bild vom "Zelten" drückt sich die Gleichartigkeit des Wortes mit dem Menschen aus, eben seine menschliche Nähe und Unmittelbarkeit. Das Glaubensbekenntnis der frühen Kirche definiert es etwas anders, aber vielleicht noch eindringlicher: "et homo factus est" ("und er ist Mensch geworden"). "Homo" bedeutet ja nicht bloß "Mensch", sondern sagt in erster Linie eine Ähnlichkeit, eine Gleichartigkeit aus. Gott ist im Wort den Menschen gleich geworden und hat sich mit-geteilt. Das ist der ganze Inhalt des Prologs des Johannesevangeliums. Übrigens hat schon der Name "Adam" in der hebräischen Bibel diese Bedeutung, er kommt nämlich vom hebräischen Wortstamm "domeh", was nichts anderes heißt als "gleichen". Adam müsste demnach wörtlich übersetzt werden als "ich gleiche". Und so erkennt man bei Adam und dem johanneischen Jesus jeweils eine Bewegung auf die Ähnlichkeit hin, einmal vom Menschen in Richtung auf Gott, einmal von Gott in Richtung auf den Menschen. Der Prolog des Johannesevangeliums erinnert auch in dieser Beziehung an den Beginn der hebräischen Bibel, was sich bereits in den jeweils gleichen Anfangsworten "Im Anfang" zeigt. Über diese sprachliche Beziehung versteht man auch die christliche Rede von Jesus als einem "neuen Adam" besser (1. Kor 15,45). Solche Beziehungen zwischen den Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums müssen hier gegen jede dogmatische Engführung der Begriffe unbedingt beachtet werden. Das sind die Quellen und Wurzeln des notwendigen Dialogs.

Der sich dem Menschen im Wort gleichmachende, mit-teilende und offenbarende Gott ist folglich grundsätzlich geeignet, die Konstitution des leidenden, das heißt: sich nach Erlösung sehnenden Menschen zu verbessern. Auch der biblische Jesus behauptet doch, nicht zu den Gesunden, sondern zu den Kranken gesandt zu sein.

Nun gilt es aber auch hier, die unterschiedliche Wirkungsweise zwischen Ursubstanz und Potenzierung zu beachten. Von der Homöopathie wäre zu lernen, dass die Anwendung lediglich des nackten materiellen Stoffes den Menschen eher krank macht, jedenfalls viele unerwünschte Nebenwirkungen hat, die das Behandlungsziel in Frage stellen. Das Stoffliche an sich bringt kein Leben, sondern verhindert es. So kann der Jesus des Johannesevangeliums kurz und bündig behaupten: "Der Geist ist der Lebendigmacher, das Fleisch nützt nichts" (Joh 6,63). Also käme alles darauf an, sich den Geist anzueignen und nicht mit der stofflichen Materialität wie mit einer medizinischen Brechstange zu hantieren.

Die Wirkungsweise des biblischen Wortes ist also wie in der Homöopathie der dynamische Geist. Wer mit der Bibel in der Hand materielle Erfolge erzielen, den Sieg in kriegerischen Auseinandersetzungen davontragen oder auch nur historische Beweise führen will, wird sich im Extremfall gerade die Krankheit zuziehen, die er zu heilen versucht. In der Regel wird er rein gar nichts erreichen. Er bleibt stecken in der gewaltbereiten Auseinandersetzung, in der zeitlichen Endlichkeit und der materiellen Begrenztheit. Das Wort aber ist tatsächlich um so wirksamer, je geistiger und körperloser es genommen wird. Im Grenzfall wird die größte Wirksamkeit mit der höchsten Potenzierung des Wortes dann erreicht, wenn materiell und messbar rein gar nichts mehr davon vorhanden ist. In der Praxis der Bibellektüre heißt das: Je mehr man abhängig wird von der Historizität der Bibel, von ihren als Fakten genommenen Bildern, die dann zu Gewalt verherrlichenden Kriegsberichterstattungen mutieren, je mehr man abhängig wird von den Wundergeschichten, die dann als äußere Beweismittel dienen müssen, je mehr man also an der realen Existenz der biblischen Personen und ihrer "Erlebnisse" hängt, um so geringer stehen die Chancen auf Heilung und Erlösung.

Ein solches Verständnis der Bibel ist genau so paradox wie die Wirkungsweise der homöopathischen Medizin: Wer ganz absieht vom historischen Gehalt der biblischen Geschichten wird neben dem spirituellen auch den größten körperlichen Gewinn daraus ziehen. Dann wird die Bibel wirklich ihrem Namen als "Heilige Schrift" gerecht, eine Bezeichnung, die doch im Wortsinn ganz entscheidend mit dem "Heilsein" zu tun hat. Weder das Heilige noch das Heilende lässt sich naturwissenschaftlich beweisen. Das provoziert in unseren wissenschaftsgläubigen Zeiten hier wie dort fundamentalen Widerspruch und abgrundtiefes Misstrauen. Die aktuelle Debatte um die verbliebene Bedeutung der Bibel nach den großen äußeren Erfolgen der historisch-kritischen Exegese zeigt das bestehende Dilemma nur allzu deutlich an. Abschied von der Bibel müsste man dann nehmen, wenn man sie auf historisch greifbare Tatsachen zurückführen wollte, um darin ihren wahren Sinn und ihre Bedeutung zu erkennen. Es wird ja heute oft argumentiert mit der besonderen Kraft so genannter "authentischer" Jesusworte und -taten, von denen man spätere Übermalungen und Redaktionen als sekundär und weniger bedeutend abheben will. Solche Argumentation kann aber nur in eine Sackgasse führen, die an ihrem Ende nicht nur für die Bibel, sondern auch für den Menschen bedrohlich eng wird. Denn im gleichen Maße, wie die Heilung des Menschen von innen heraus erfolgt, bedarf es dazu angemessener Heilmittel, die ebenfalls innerlichen, seelischen und geistigen Charakter haben.

Eine intensive "Potenzierung" der biblischen Erzählungen kann darüber hinaus auch die schlimmsten Knoten ökumenischer und interreligiöser Verwicklungen auflösen. Die Verständigungsmöglichkeiten zwischen den Konfessionen und Religionen nehmen nämlich exakt in dem Maße ab, in dem die biblische Botschaft auf eine historische Wahrheit reduziert wird: sei es in der Frage des Charakters von Brot und Wein beim Abendmahl, sei es bei medizinischen und biologischen Fragen einer "Jungfrauengeburt", sei es auch bei den fundamentalistischen Ansprüchen auf materielles Erbe, imperialistischen Landbesitz oder exklusive Machtpositionen. Auf allen diesen Feldern nützt das Fleisch ebenfalls nichts, vielmehr erscheint es im übertragenen und tragischerweise oft genug im wörtlichen Sinne als tödlich. Die gewalttätigen fundamentalistischen Bewegungen in den biblisch orientierten Religionen - also im Judentum, Christentum und Islam - sind dafür abschreckender Beweis genug. Die tödliche Konfrontation und den ausgrenzenden Fundamentalisms kann allein der Geist im lebendigen Gespräch überwinden. Im Dialog der Religionen könnte man sich daher heilen lassen von der homöopathischen Gestalt der biblischen Texte, die zwar keine nachweisbaren Tatsachen mehr enthalten und daher nicht als historisch wahr gelten können, die sich aber um so stärker in der Seele des Menschen entfalten können und daher wirk-lich sind.


Anmerkung

*) Der Titel lehnt sich an die Klassifizierung homöopathischer Arzneimittel an. So verweist die Kennzeichnung "LM" auf eine Potenzierung mit dem Faktor 50.000 für jeden Verarbeitungsschritt. Bei LM2000 (die es in der homöopathischen Praxis gar nicht gibt ...) wäre von der Ausgangssubstanz wohl kaum ein Atom mehr nachweisbar.
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