Asyl - ein demokratisches Grundrecht und seine Begründung in der Bibel

Manuskript eines Vortrags vom 10. September 1989 in der Jüdischen Gemeinde Aachen

Friedhelm Wessel

Asylanten und Ausländer, Flüchtlinge und Fremde, Übersiedler und Aussiedler: kaum ein Thema hat in den letzten Tagen und Wochen die Gemüter so erhitzt wie dieses. Die Stellungnahmen sind höchst unterschiedlich: die Politiker debattieren über das Grundrecht auf Asyl, die Leute auf der Straße reden davon, daß das Boot voll sei - die einen wünschen sich eine multikulturelle Gesellschaft, die anderen ein Deutschland nur für Deutsche. Die Debatte wird mit großer Emotionalität geführt - gerade auch weil das Thema schwierig ist und viele Rücksichten erfordert. Eines macht aber schon die Diskussion deutlich: es wird viel über die Fremden geredet und beschlossen, wenige sind es aber nur, die mit ihnen reden.

Ich möchte heute einen Versuch der Annäherung wagen, der auf den ersten Blick von weit her kommt. Die aktuelle Asylrechtsdebatte und die Aussagen der Bibel sind zumindest historisch durch einige Tausend Jahre voneinander getrennt. Ich bin aber überzeugt, daß biblische Geschichte Wesentliches erzählt und daß sich deshalb auch wesentliche Perspektiven daraus für die heutige Politik und unsere Umgangsweise mit dem Fremden ergeben.

Wie kann man sich nun dem Fremden - biblisch - nähern? Eine erste Annäherungsweise bietet sich an über die Untersuchung des Wortgebrauches. In deutschen Bibelübersetzungen ist da von dem "Fremden", dem "Fremdling" oder auch dem "Ausländer" die Rede. Wie immer ist die Übersetzung sehr ungenau.

Im Hebräischen wird aber genau unterschieden zwischen zwei Worten, die eigentlich auch im Deutschen unterschiedlich wiedergegeben werden müßten, aber die Bedeutungen gehen - wie gesagt - durcheinander. Im Deutschen kann der Fremde ein Gast sein, dann vermittelt man ihm ein Fremdenzimmer; er kann aber auch ein Asylant sein, ein Flüchtling, dann gibt es Leute, die meinen, er sei ein "Schein-asylant", womöglich ein "Parasit" oder noch schlimmer: ein "Kanacke". Man sieht also: es kommt auf den genauen Sinn des Wortes an, man könnte auch sagen: auf den Geist, der hinter dem Reden steht.

Im Hebräischen also gibt es für den Fremden, bzw. das Fremde zwei Wörter: das erste, das weniger oft vorkommt, lautet nachri, das andere, häufigere, heißt ger. nachri steht immer in einem negativen Bedeutungszusammenhang: es ist, so könnte man übersetzen: der Fremde, der Israel und seinen Prinzipien feindlich und ablehnend gegenübersteht. Als Adverb, "fremd" nechar, kann es sogar götzendienerisch, heidnisch heißen. Vor allem im 5. Buch Mose, im Deuteronomium, kommt das Wort nachri einigemal vor und dabei ist dann die Rede von: fremden Götzen (Dt 31,16; 32,12), davon, daß der nachri nicht israelitischer König werden darf (Dt 17,15); ihm ist es, im Gegensatz zu Israel erlaubt, Aas zu essen (Dt 14,21), es ist den Israeliten, erlaubt, von ihm Zins zu nehmen (Dt 23,21), ja, Israel darf sogar im Sabbatjahr, wenn alle Schulden erlassen werden, den nachri drängen, seine Schuld zu begleichen (Dt 15,3). Im 1. und 2. Buch Mose wird der nachri als Sklavenhändler und -halter genannt (Ex 21,8; Gen 17,12.27).

Der Fremde als nachri ist also durchaus jemand, der von Israel abgelehnt und ausgeschlossen wird. Dies aber nicht wegen seines Fremdseins als solchem, sondern weil er in götzendienerischer und auch unsozialer Absicht Israel gegenübersteht. Mit diesem Fremden gibt es einfach keine Gemeinschaft, weil damit die religiöse Grundüberzeugung Israels aufgegeben würde.

Ein bezeichnendes Licht auf diese Charakterisierung des Fremden als nachri wirft die Geschichte, die uns 2 Sam 15,18 berichtet wird. Da wird erzählt, wie im Laufe der erschütternden Auseinandersetzung zwischen König David und seinem Sohn Absalom der König gezwungen ist, zu fliehen. Absalom hatte nämlich durch List und Intrige eine Verschwörung angezettelt, um sich selbst zum König zu machen. David sammelt also seine Leute, um über den Jordan hinüber zu entkommen. Zu seinen Anhängern gehört auch Ittai, ein Mann aus Gat - also ein Philister - mit 600 Kriegern. David sagt nun zu diesem Ittai: "Kehre um! Du brauchst nicht mit uns umherzuirren. Du bist ja ein nachri und überdies aus deiner Heimat verbannt". Ittai ist also ein Ausländer, den das Schicksal des Königs eigentlich als nachri nicht interessieren sollte. Im so überrraschender ist die Antwort, die er David gibt. Da heißt es nämlich wörtlich: "So wahr Gott der Herr lebt, und so wahr mein Herr, der König lebt; Dort, wo mein Herr, der König sein wird, sei es zum Tode oder zum Leben, dort wird auch dein Diener sein". Diese Antwort ist höchst überraschend, denn hier legt ein nachri ein Bekenntnis der Treue zum Gott Israels und zu König David ab, und das in einer Stunde, wo es für den König nicht gerade sehr positiv aussieht. Es kann also sehr wohl sein, daß ein nachri trotz aller Erwartung seinem Namen keine Ehre macht und ein Glaubensbekenntnis ablegt. Damit ist er aber eigentlich kein Fremder mehr: die berühmte Ausnahme von der Regel, auf die man in der Bibel immer gefaßt sein muß. Ittai steht damit in einer Linie mit der Moabiterin Ruth, also auch einer Ausländerin, einer nachrijah (Ru 2,10), die trotz dieser Herkunft ein ähnliches Glaubensbekenntnis ablegt. Ru 1,16 beteuert Ruth ihrer israelitischen Schwiegermutter: "Wo du hingehst, will auch ich hingehen; wo du weilst, will auch ich weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott". Fast die gleichen Worte, die Ittai zu David spricht. Mit dieser eigentlich auch völlig unerwarteten und außergewöhnlichen Wendung folgt sie ihrer Schwiegermutter nach Bethlehem. Dort trifft sie den Boas, und aus ihrer Ehe stammt der Sohn Obed, der Großvater Davids!

Diese beiden Geschichten machen im Wesentlichen deutlich,daß es biblisch keine Festlegung gibt. Es ist immer Platz für das Unerwartetete, das Überraschende, für das, was die Regel durchbricht. Biblisch ist dieses Außergewöhnliche, dieses Durchbrechen des Starren und Festgelegten häufig in besonderer Weise heilsgeschichtlich entscheidend. Die Ausländerin Ruth ist die Ahnmutter Davids; aus diesem Geschlecht wird 28 Generationen später Jesus geboren. Im ersten Kapitel des Matthäus-Evangeliums werden im Buch der Abstammung Jesu 42 Generationen von Männern aufgezählt; unter den 5 Frauen, die vorkommen, wird Ruth vom Evangelisten eigens genannt.

Man muß, so denke ich, aus diesen Geschichten offensichtlich den Schluß ziehen, daß sich biblisches Denken unserem oft harten Determinismus entzieht. Wo sich hier für uns etwas sozusagen nach Recht und Ordnung abspielen soll, da weiß die Bibel etwas von dem überraschend Neuen und Anderen. Nur so kann David in einer lebensbedrohenden Krise überleben, nur so erscheint Jesus hier. Würden sich die handelnden Personen in den Erzählungen von David und Ittai und der Moabiterin Ruth an das gängige Vorstellungsmuster halten, daß nämlich der Fremde, nachri, möglichst auf Distanz gehalten werden muß, so hätte die Geschichte, die dann zur Heilsgeschichte wird, einen anderen Verlauf genommen - ja, sie wäre nicht einmal zustande gekommen. Die Geschichte, wie sie uns erzählt wird, enthält somit eine Warnung an uns, mit Vorurteilen aufgrund des bloßen Augenscheins vorsichtig zu sein. Man könnte sich sonst die Zukunft verbauen!

Das Stichwort "Zukunft" führt uns an eine Stelle weiter zurück in der biblischen Überlieferung. Es führt uns gleichzeitig zu dem anderen Begriff für den Fremden: nämlich ger. Im 1. Buch Mose, im Kapitel 12 beginnt die Geschichte Abrahams. Sie beginnt mit der Verheißung von Zukunft. Gott, der Herr spricht zu Abraham, der zu diesem Zeitpunkt noch Abram heißt: "Ziehe fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein". Die Verheißung von Nachkommenschaft ist Verheißung von Zukunft und sie geht einher mit einem Ortswechsel: Bewegung, die etwas Neues bringt. Veränderung und Überraschung stehen deshalb am Anfang des Glaubensweges Israels, nicht Starrheit und Festhalten am Althergebrachten. Und selbst die Nachkommenschaft des Abraham entsteht auf ungewöhnliche Weise: da soll doch, nach Gottes Wort, dem 100-jährigen Abraham und der 90-jährigen Sarah noch ein Sohn geboren werden. Wo das Zustandekommen der gegebenen Verheißung eigentlich schon unmöglich ist, da soll ein Sohn geboren werden, der der Repräsentant des Bundes ist zwischen Gott und den Menschen. Mit allem Respekt: aber da müssen selbst Abraham und seine Frau lachen. Der Sohn aber kommt doch und er heißt jizchaq, nämlich: "ein Lachen hat mir Gott bereitet".

Am Beginn der Geschichte Abrahams steht zwar die Verheißung, auf den Weg dorthin geht es aber nicht gradlinig, sondern über Stationen, die ganz im Gegenteil eher einen Rückschritt bedeuten. Kaum in Kanaan, dem gelobten Land angekommen, muß Abraham es schon wieder verlassen und zwar nach Ägypten. Man fragt sich, warum solche Umwege? Warum läßt Gott nicht gleich die Verheißung wahr werden? Immer diese Zögern, diese merkwürdigen Wenden! Die Genesis ist voll von solchen Fluchtgeschichten: angefangen bei Abraham über Isaak und Jakob bis hin zu Joseph und seinen Brüdern. Und dann, am Anfang des Buches Exodus, der erneute Auszug, diesmal aber keine Flucht in die Fremde, sondern die Heimkehr in das gelobte Land und die Erfüllung der Verheißung. Zuvor wird aber bei allen sogenannten "Patriarchen" eine Fluchtgeschichte geschildert. Es scheint so, als gehöre die Flucht notwendigerweise zum Errettungs- und Verheißungsgeschehen dazu. Flucht und Rettung gehören wohl zusammen wie Licht und Schatten, die ohne einander nicht denkbar sind. Die biblische Geschichte ist deshalb auch ein Urbild für Geschichte überhaupt: denn in unserer Geschichte gibt es auch immer ein Vorher und ein Nachher, gibt es auch Fortschreiten und Rückschläge. Und ohne diese Gegensätze wäre Geschichte für uns gar nicht wahrnehmbar.

Nun aber zur biblischen Erzählung selbst: Abraham, der Vater der Verheißung, muß also in die Fremde ziehen. In Gen 12,10 heißt es: "Als eine Hungersnot im Lande ausbrach, zog Abraham nach Ägypten hinab, um dort als Fremder zu weilen. Denn die Hungersnot lastete schwer auf dem Land". Das hebräische Wort, das hier gebraucht wird, lautet gawar. Das ist ein Verb und heißt übersetzt: "sich als Fremder, und zwar als Gast und Schützling irgendwo niederlassen". Dieser zweite Begriff für den Fremden im Hebräischen ist also verschieden von dem schon erwähnten nachri. Das Kennzeichen des nachri ist Andersartigkeit mit einem leisen Unterton von Ausgrenzung und Feindschaft; ganz im Gegenteil zu gawar, das mit Schutzbedürftigkeit zusammenhängt.

Hier erscheint nun zum ersten Mal in der Bibel dieses Wort und es wird uns im weiteren Verlauf der Überlegungen in verschiedenen Formen immer wieder begegnen. Grundlegend wird das Thema "Fremder" schon hier im Buch Genesis behandelt. Merkwürdigerweise aber folgen auf die Erzählung von der Hungersnot und dem "Hinabziehen" Abrahams in Gen 12 noch zwei weitere Geschichten, die fast genauso lauten: einmal wird in Gen 20 erzählt, wie Abraham als Fremder in Gerar weilt, dann wird Ähnliches in Gen 26 von Isaak berichtet. Diese Häufung der gleichen Ereignisse muß einen bestimmten Grund haben. Um diesem Grund näherzukommen, möchte ich alle drei Geschichten im Zusammenhang vorlesen:

Gen 12,10-20 Gen 20,1-18 Gen 26,1-14

Wenn man diese Geschichten hört, kann man ein leises Schmunzeln über die List von Abraham und Isaak nicht verbergen. Dann stellt man sich aber erstaunt die Frage, was denn der Sinn dieser Tarnungen ist. Um da etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen, ist es vielleicht sinnvoll, zunächst zu fragen, was es mit dem Ort des Geschehens auf sich hat. Genannt werden Ägypten, hebräisch mizrajim, und gerar. Über mizrajim braucht eigentlich nicht viel gesagt zu werden; es ist für Israel das Exil, die Fremde schlechthin. Das Wort leitet sich ab vom Stamm zar und das bedeutet "Enge", "Bedrängnis", "Not", "Härte", "Starrheit"; zur heißt auch "Fels", "harter Stein". Man sollte aber dabei beachten, daß die Bibel solche Orte nennt, um damit etwas Wesentliches auszudrücken. Es ist damit also nicht etwa der heutige Staat Ägypten gemeint, sondern das biblische Land mizrajim, das im Wesenlichen "Bedrängnis" bedeutet. Es ist deshalb auch ein sinnloses Unterfangen, die Marschroute Abrahams auf der Landkarte zu suchen. Das gleiche gilt für den Ort oder das Land gerar. gerar stammt vom Wort ger, und das heißt: "der Fremde". gerar ist also im wesentlichen die Fremde, das fremde Land schlechthin. In den Fluchtgeschichten von Abraham und Isaak geht es also nicht um einige Episoden aus ihrem wechselreichen Wanderleben, sondern um prinzipielle Aussagen über Zuhausesein und Fremdsein in der Welt.

Aber zurück zu unseren Geschichten: zweimal wird der Grund genannt für die Flucht der Väter: es herrscht eine Hungersnot im Land und, wie es in Gen 12,10 heißt: "die Hungersnot lastete schwer auf dem Land". Abraham und Isaak müssen ihre Heimat verlassen, weil sie dort keine ausreichende Lebensgrundlage mehr vorfinden. Mit einem heutigen, wenig schmeichelhaften Ausdruck müßte man sie als "Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnen: der Grund für ihre Flucht ist materielle Not. gerar und mizrajim sind wohlhabende Länder, dort weiß man anscheinend nichts von einer Hungersnot. Die "Kornkammern" und "Fleischtöpfe" Ägyptens sind ja bis noch in unseren Sprachgebrauch Synonyme für materiellen Reichtum und Wohlstand. Es ist also kein Wunder, daß man sich dorthin aufmacht, wo in harten Zeiten noch Überfluß herrscht. Und die Gastgeberländer scheinen die Schutzbedürftigen auch bereitwillig aufgenommen zu haben - es wird jedenfalls nichts über Einreisebeschränkungen oder zermürbende Asylverfahren berichtet. Selbst in einem "harten" Land wie Ägypten, wo gerechnet und bilanziert wird, kann man sich als ger, als Schützling aufhalten.

So ganz problemlos ist der Aufenthalt der Patriarchen in der Fremde jedoch nicht! Es gehört schon eine ganze Portion Mut und Aufgewecktheit dazu, um dort überleben zu können. Das wird uns in allen drei Geschichten berichtet. Und zwar mittels der merkwürdigen und außergewöhnlichen Rolle, die die Frauen dabei spielen. Warum müssen Abraham und Isaak ihre Frauen als ihre Schwestern ausgeben, so fragt man sich doch erstaunt, warum dieses Versteckspiel?

Eine erste Antwort wird im Text selbst gegeben: sowohl Sarah, als auch Rebekka sind schöne Frauen. Die Ägypter, bzw. die Männer aus gerar scheinen ja geradewegs aus dem Häuschen zu sein wegen ihrer äußeren Erscheinung. Das geht dann sogar soweit, daß sowohl der Pharao, wie auch der König von gerar, Abimelech, Ansprüche anmelden und sie für sich haben wollen. Nun könnte man annehmen, die Ägypter und die Männer aus gerar seien arge Lüstlinge, die sich nicht beherrschen können. Aber es steckt wohl etwas mehr hinter diesen "Frauengeschichten". Die Tatsache, daß dieselbe Begebenheit mehrmals erzählt wird, deutet schon darauf hin, daß wiederum etwas Prinzipielles herausgestellt werden soll: es wird eine Unterscheidung gemacht zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen. Bei den Ägyptern, um bei der ersten Geschichte zu bleiben, ist das Weibliche begehrenswerter als das Männliche. Ja, das Männliche, personifiziert in Abraham, muß sogar fürchten, umgebracht zu werden, falls es ihrem Begehren im Wege steht. Das erinnert an die Erzählung im 1. Kapitel des Buches Exodus, wo der Pharao befiehlt, die neugeborenen Söhne der Hebräer zu töten, die Mädchen aber am Leben zu lassen. Es erinnert auch an den Kindermord des Herodes im Neuen Testament, dem auch nur die Knaben zum Opfer fallen.

Das Weibliche hat von den Ägyptern nichts zu befürchten - ja ganz im Gegenteil, es wird sogar von ihnen umworben und gepflegt. Nur deswegen wird Abraham Gutes getan, deswegen erhält er Schafe, Rinder, Esel, Kamele und Knechte. Die Ägypter lassen es sich also wohl etwas kosten, um die Frau, das Weibliche, in ihren Besitz zu bringen.

Ich hoffe, es wird deutlich, daß hier nicht von modernem männlichen Chauvinismus die Rede ist. Es geht auch nicht um Fragen von Gleichberechtigung oder Emanzipation. Es geht vielmehr um eine Charakterisierung des Wesens von mizrajim! Das Weibliche in der Bibel kennzeichnet immer die Welt des Erscheinenden, des Greifbaren, dessen, was für uns meßbar, materiell vorhanden ist. Es ist ja das Weibliche, wodurch die Kinder hier geboren werden, hier sichtbar erscheinen. Die Rolle des Mannes bei diesem Akt ist eher eine verborgene, unsichtbare. Das Erscheinende nennen wir heute mit einem Fremdwort auch die "Materie"; es ist sicher kein Zufall, daß dieses Wort von dem lateinischen "mater", "Mutter", "Frau" abgeleitet ist. Wir sprechen auch von "Mutter Erde", aber vom "Vater im Himmel".

Auf dieses Weibliche, das Materielle, haben es nun die Ägypter abgesehen. Abraham und Isaak, Verkörperungen des anderen, des männlichen Prinzips, sie wissen, was mit den Ägyptern und den Leuten aus gerar los ist. Sie kennen die Verfassung ihrer Gastgeber und greifen deshalb zu einer List, um ihrer eigenen Bedrohung zu entgehen.Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka sind ja Mann und Frau, sie gehören zusammen, sind, modern ausgedrückt, miteinander verheiratet. Und was zusammengehört, das soll man nicht trennen. Nein, mehr noch: man kann es nicht trennen. So wie hell und dunkel, kalt und warm zusammengehören und einzeln nicht existieren können. Wenn man aber trotzdem das, was zusammengehört, trennen will, weil man nur eine Seite besitzen will, so sind beide Seiten verloren!

Ägypten und gerar versuchen nun genau dies: sie wollen die Frauen, die materielle Seite, besitzen und deshalb müssen die Männer befürchten, getötet zu werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, versuchen Abraham und Isaak den eigentlichen Charakter ihrer Beziehung zur Frau zu verbergen und vermitteln nach außen den Eindruck, als sei die innige Verbindung gar nicht vorhanden. Die Ehefrau wird also zur Schwester und Abraham und Isaak retten zunächst einmal ihr Leben. Das Täuschungsmanöver hat aber nicht lange Bestand. Daß Lügen oder Halbwahrheiten (Sarah ist tatsächlich auch Abrahams Schwester) kurze Beine haben, auch wenn sie in guter Absicht auftreten, wird also auch hier schon deutlich: die Wahrheit kommt so oder so ans Licht.

Das Überraschende an allen drei Geschichten ist aber nicht dies, daß die List nicht ganz gelingt; viel überraschender ist doch die Reaktion der Ägypter und der Männer aus gerar. Sobald die Wahrheit erkannt wird, findet eine Umkehr statt. Die Befürchtungen von Abraham und Isaak lösen sich in Nichts auf, und sie können, reich beschenkt und materiell gut ausgestattet, ihrer Wege ziehen. Es ist interessant und wichtig, zu sehen, wie diese Umkehr und Einsicht in den drei Geschichten unterschiedlich beschrieben wir: In der ersten Geschichte von Abraham in Ägypten heißt es noch: "Der Herr aber schlug den Pharao und auch sein Haus wegen Sarai, der Frau Abrams, mit schweren Plagen" (Gen 12,17); daraufhin erkennen die Ägypter das Unrecht und bringen Abraham in seine Heimat zurück. In der Erzählung von Abraham in gerar heißt es dann (Gen 20,3): "Doch Gott kam in der Nacht im Traum zu Abimelech und sprach zu ihm: 'Fürwahr, du mußt um der Frau willen, die du geholt hast, sterben, denn sie ist eine Ehefrau!'". Abimelech antwortet erschrocken: "Herr, tötest du auch Schuldlose?". Und dieser Einwand ist berechtigt, denn in der Tat trifft ihn keine Schuld, denn er hat ja unwissentlich gehandelt und ist von Gott vor einer Verfehlung bewahrt worden. Jedenfalls hat Abimelech die schlimmen Befürchtungen Abrahams nicht bestätigt, er hat ihm vielmehr Gutes erwiesen. So heißt es denn auch weiter: "Darauf nahm Abimelech Schafe und Rinder, Knechte und Mägde und gab sie Abraham; auch gab er ihm seine Frau Sarah zurück. Und Abimelech fügte hinzu: 'Wohlan, mein Land steht dir offen, wohne, wo es dir gefällt!'".

In der dritten Geschichte nun, die von Isaak und Rebekka handelt, erkennt Abimelech selbst die Wahrheit und wirft Isaak vor (Gen 26,10): "Warum hast du dies getan? Wie leicht hätte einer aus dem Volk deiner Frau nahen können! Dann hättest du eine Schuld über uns gebracht !" Die Erzählung endet dann mit einem feierlichen Bundesschluß zwischen Isaak und Abimelech.

Wie wir sehen, läuft die Entwicklung des Themas in den drei Geschichten darauf hinaus, daß die führenden Männer von mizrajim und gerar letztlich doch zur Einsicht gelangen. Das geschieht auf wirklich unterschiedliche Weise: Zunächst gezwungen in harter Form durch göttliche Plagen, dann auf eher einfühlsame Weise in einem Traumgesicht und schließlich durch eigene Erkenntnis. Diese Entwicklungslinie ist ein eindrucksvolles biblisches Beispiel, wie sich Umkehr und Erneuerung zeigen können: Durch eigene, sozusagen objektive Beobachtung der Wirklichkeit und richtige Schlußfolgerung daraus, durch intuitives, träumerisches Erfassen der Wahrheit oder, als wirklich letzte Konsequenz, durch den zwingenden Druck gottgesandter Plagen. In allen drei Geschichten ist aber das Wesentliche die Umkehr und die Einsicht.

Das Exil, die Fremde verliert durch diese Umkehr ihren tödlichen, bedrohenden Charakter. mizrajim und gerar bleiben zwar fremd, und Abraham und Isaak lassen sich nicht für immer dort nieder, es ist aber zu einem friedlichen Nebeneinander gekommen. Mit gerar schließlich wird sogar ein richtiger Bund geschlossen.

Ich möchte an dieser Stelle in der biblischen Geschichte innehalten und zusammenfassen, was bisher bemerkenswert für unser Thema ist. In diesen drei Fluchtgeschichten wird ja das Fundament gelegt für die ganze weitere Betrachtung des Fremden in der Bibel. Ich glaube deshalb auch, daß sich daraus entsprechend fundamentale Erkenntnisse für uns ergeben:

1. Am eigentlichen Beginn der biblischen Geschichte mit den Erzählungen von den Patriarchen, dort ist auch der Anfang der Geschichte des Fremden und des Fremdseins. Das Fremdsein, hier im Sinne von gawar = "schutzbefohlen sein", gehört somit zum biblischen Urgestein. Es ist offensichtlich, daß die Verheißung und die Wanderschaft, das Zuhausesein im Wort Gottes und das Fremdsein in der Welt zusammengehören.

2. Der Grund für die Notwendigkeit, in die Fremde zu ziehen und sich dort als Schützling aufzuhalten, ist materielle Not. Der Hunger treibt zu diesem Schritt. Die Gastgeberländer sind reiche Länder, die von ihrem Überfluß abgeben können. Es ist dem biblischen Denken selbstverständlich, daß man sich angesichts einer solchen Frage wirtschaftlichen Überlebens an jene Länder wendet, deren Lebensgrundlage gesichert ist, und die in der Lage sind, ihren Reichtum zu teilen. Bemerkenswerterweise wird im Zusammenhang mit dem Wort ger nirgends das Problem erörtert, ob das Vorhandene auch für alle ausreicht, oder ob man auf Seiten der Gastgeber nicht die Grenzen schließen sollte, damit der durch eigene Anstrengung erreichte Wohlstand auch gesichert bleibt.

3. Trotz dieser Beobachtungen fällt jedoch auf, daß die biblischen Länder mizrajim und gerar ganz in ihrem Reichtum gefangen sind. Ihnen geht es nur um die eine Seite, das Weibliche, das hier greifbar, sichtbar und verwertbar Vorhandene. Sie werden damit als durch und durch materialistisch gekennzeichnet. Nicht Abraham und Isaak sind interessant für den Pharao und den König Abimelech, sondern das, was sie mitbringen - in der biblischen Symbolsprache: ihre Frauen, die schön sind und begehrenswert. Damit aber begehen beide Herrscher, wissentlich oder unwissentlich, ein großes Unrecht: sie sind im Begriff, die wesentliche Verbindung zwischen dem Materiellen und dem Über-Materiellen, dem Geistlichen und Prinzipiellen zu kappen. Und dieser Versuch hat Konsequenzen, de sich in göttlichen Plagen und Unfruchtbarkeit äußern; jedenfalls werden dadurch das Überleben und die Zukunft aufs Spiel gesetzt.

4. Die Wende in unseren Geschichten tritt dann ein, wenn dieser Zusammenhang erkannt wird. mizrajim und gerar sehen ein, daß ihr Handeln auf falschen Annahmen und Beurteilungen beruhte. Das Weibliche ist nicht einfach verfügbar und benutzbar, sondern es gehört in einen anderen, größeren Zusammenhang. Wer diesen Zusammenhang nicht sieht und sich einseitig auf das Materielle konzentriert, muß mit Unheil rechnen. Dies erfahren die maßgebenden Führer von mizrajim und gerar. Sobald sie aber zur Einsicht kommen, folgt eine Umkehr und sie können loslassen von ihrem bisherigen Tun. Sie können die Frauen, Sarah und Rebekka, loslassen und sie ihren Männern zurückgeben, d.h. sie in ihren eigentlichen Zusammenhang stellen. Dieses Loslassen-Können ist also Folge von Einsicht und Umkehr. Der Weg des Auseinanderreißens und des Besitzen-Wollens führt in den Untergang. Das Verlassen dieses Weges führt in letzter Konsequenz zu einem Bündnis zwischen denen, die einander fremd waren. Am Ende der Erzählung von Isaak in gerar heißt es:

Zitat Gen 26,26-31

Dies also sind die fundamentalen Beobachtungen, die in der biblischen Sicht des Fremden von Beginn an enthalten sind. Ich hoffe, Sie haben mit mir den Eindruck gewonnen, daß das Thema weit über den eingeschränkten Bereich "Flüchtlingsproblematik" und "Asyl" hinausweist. Es geht eigentlich um das menschliche Verhalten überhaupt.

Es geht in unseren Erzählungen nicht um amüsante Episoden aus dem Leben der Väter, sondern um eine Beschreibung auch unseres Verhaltens. Ich glaube sogar, daß man gerade heute das Wesen von mizrajim und gerar ganz besonders in unserer Wirklichkeit wiederfinden kann.

Die entscheidende Frage dazu lautet: setzen wir ebenfalls allein auf die weibliche Seite, das Materielle und jagen wir dem sichtbaren Fortschritt, dem Wachstum in der Produktion nach, oder wissen wir um die innige Verbindung der harten Realität mit der anderen Existenzweise, nämlich der der Väter, denen Nachkommenschaft und damit Segen und Zukunft verheißen ist? Den Sinn erhält die Geschichte nämlich erst durch die Verbindung der zwei Seiten. Es besteht heute der begründete Verdacht, daß die erste Welt, die Industriegesellschaften genau der gleichen Verblendung verfallen sind wie mizrajim und gerar. Was gemeinhin zählt, ist der sichtbare Erfolg und ein funktionierender Markt.

Ich möchte dazu einen modernen Denker zitieren, der den Konflikt, um den es geht, sehr eindringlich geschildert hat. Ich meine Erich Fromm mit seinem Buch "Haben oder Sein". Beim Problem des Fremden im Buch Genesis geht es genau um diese beiden Existenzweisen des Habens oder des Seins. Bei Fromm heißt es: In der Existenzweise des Habens "zählt einzig und allein die Aneignung und das uneingeschränkte Recht, das Erworbene zu behalten. Die Haben-Orientierung schließt andere aus und verlangt mir keine weiteren Anstrengungen ab, um meinen Besitz zu behalten bzw. produktiven Gebrauch davon zu machen. Es ist die Haltung, die im Buddhismus als Gier, in der jüdischen und christlichen Religion als Habsucht bezeichnet wird. Sie verwandelt alle und alles in tote, meiner Macht unterworfene Objekte. (...) In der Existenzweise des Habens gibt es keine lebendige Beziehung zwischen mir und dem, was ich habe. Es und ich sind Dinge geworden, und ich habe es, weil ich die Möglichkeit habe, es mir anzueignen. Aber es besteht auch die umgekehrte Beziehunh: Es hat mich, da mein Identitätsgefühl bzw. meine psychische Gesundheit davon abhängt, es und so viele Dinge wie möglich zu haben. Die Existenzweise des Habens wird nicht durch einen lebendigen, produktiven Prozeß zwischen Subjekt und Objekt hergestellt. Sie macht Subjekt und Objekt zu Dingen. Die Beziehung ist tot, nicht lebendig" (Haben oder Sein, TB S.79).

Über das Sein sagt er: "Das Sein bezieht sich auf das Wirkliche im Gegensatz zum verfälschenden, illusionären Bild. In diesem Sinn bedeutet jeder Versuch, den Bereich des Seins auszuweiten, vermehrte Einsicht in die Realität des eigenen Selbst, der anderen und unserer Umwelt. Die ethischen Hauptziele der jüdischen und der christlichen Religion - die Überwindung der Gier und des Hasses - können nicht erreicht werden, ohne ein weiteres Moment heranzuziehen, das für den Buddhismus von zentraler Bedeutung ist, obwohl es auch im Judentum und im Christentum eine Rolle spielt: Zum Sein gelangt man, wenn man durch die Oberfläche dringt, und die Wirklichkeit erfaßt" (Haben oder Sein, TB S.99).

Es ist wirklich überraschend, wie Erich Fromm hier in modernen Worten genau das ausdrückt, was das zentrale Anliegen unserer Texte ist. Der Wendepunkt in den verschiedenen Existenzweisen wird hier wie in unseren Fluchtgeschichten geschildert als Erkennen der Wirklichkeit und Umkehr.

Es ist offensichtlich, daß unsere Gesellschaft geprägt ist von einer Mentalität des Habens und des Haben-Wollens: wie in Ägypten und Gerar gilt die Aufmerksamkeit der materiellen Seite. Auf den Fremden bezogen heißt das: es wird heute danach gefragt, was uns der Fremde nützt, was wir materiell davon haben, wenn wir Äusländer bei uns aufnehmen. Oder umgekehrt: was kostet es uns, wenn die Fremden zu uns kommen? Es wird aber viel zu wenig darüber nachgedacht, welche Bereicherung der Fremde sein könnte für uns. Um es deutlicher zu machen: als die sogenannten Gastarbeiter in den sechziger Jahren gerufen wurden, waren sie willkommen, weil sie halfen, die Produktion und den Reichtum zu steigern. Wo die Produktion heute an ihre Grenzen stößt, sind sie - so heißt es - überflüssig.

...

Es scheint mir an der Zeit zu sein, daß die Wahrheit zu ihrem Recht kommt. Die Wahrheit ist aber - das lehren uns die Geschichten von Abraham und Isaak - daß hinter und über dem harten Geschäft von Geben und Nehmen etwas anderes steht, was mit Erich Fromm nur in Kategorien des Seins auszudrücken ist. Nur aus dieser Perspektive erhält auch das Haben erst seinen Sinn.

Der Versuch, sich einseitig auf die Haben-Seite zu beschränken, führt nach unseren Erzählungen zu Plagen und Zukunftslosigkeit. Die Plagen, mit denen wir es heute zu tun haben sind Borniertheit, Konkurrenzkampf und Angst. Wer sein Heil in dem sucht, was vergänglich ist, muß immer damit rechnen, etwas zu verlieren - das macht ängstlich und mißtrauisch gegenüber jedermann, der ein möglicher Konkurrent sein könnte. Der Umgang mit dem Fremden in unserer Gesellschaft ist ein Prüfstein für unsere Fähigkeit, etwas umsonst zu tun; nicht danach zu fragen, was haben wir davon, sondern es sein zu lassen.

Abraham und Isaak wird am Beginn ihres Weges ein Land verheißen: groß und weit, wo Milch und Honig fließen. Als Israel aus der Wüste endlich dorthin kommt, muß es zuerst die Kanaaniter vertreiben. Die Kanaaniter aber heißen im Hebräischen kena'ani, und das bedeutet "Händler", "Krämer". Was vor der Inbesitznahme des Landes vertrieben werden muß, ist also die Krämerseele, d.h. dasjenige, was rechnet und auf Gewinn aus ist. Aus der hebräischen Bibel könnten wir also wissen, was es bedeutet, sich von der Mentalität des Habens zu verabschieden - es geht schließlich um die Gewinnung des gelobten Landes!

Unser Land, die Bundesrepublik, ist heute die Fremde, d.h. ein Land, in dessen Schutz sich viele Flüchtende begeben. Die Parallelen zu Ägypten und Gerar sind unübersehbar: es geht auch bei uns um nackte Zahlen und Statistiken, hinter denen die menschlichen Schicksale verschwinden. Die Forderung nach Einsicht ist noch unerfüllt - noch herrscht die Krämerseele. Die Geschichte von Abraham und Isaak könnte uns lehren, daß es jenseits davon bessere Möglichkeiten gibt, den Fremden zu akzeptieren und ihm zum Leben zu verhelfen.